Sindelfingen im Zweiten Weltkrieg: Auch unter Zwangsarbeitern gab es eine Hierarchie
Sindelfingen. Das Stadtmuseum Sindelfingen befasst sich von September 2019 bis Mai 2025 unter dem Titel „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs und wie sich damals die Situation für die Menschen vor Ort darstellte. Thema im Monat Juli 2022: Der Umgang mit Zwangsarbeitern als Spiegel der NS-Rassenideologie.
Im Gemeinderatsprotokoll vom 30. Juli 1942 findet sich unter §61 der Beratungsgegenstand „Beschaffung von Unterkunftsbaracken für russische Zivilarbeiter“. Darin wird ausgeführt: „Verschiedene Gewerbetreibende hier, so unter anderem die Uhrenfabrik Suevia und Martin Bitzer sind an die Stadtverwaltung herangetreten, um einen geeigneten Platz zur Erstellung einer Unterkunftsbaracke zur Unterbringung der ihnen in Aussicht gestellten Zuweisung russischer Zivilarbeiter durch die Stadt zur Verfügung zu stellen.“
Ernährung und Unterbringung
Grundsätzlich war die Unterbringung von Zwangsarbeitern Aufgabe der Unternehmen, die sie beschäftigten, aber ohne städtische Hilfe waren häufig keine Standorte zu finden. So zieht sich das Thema wie ein roter Faden durch die Gemeinderatsprotokolle der Kriegszeit. Das verwundert nicht. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass in Sindelfingen, das bei Kriegsbeginn knapp 9000 Einwohner hatte, zwischen 1940 und 1945 über 3000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eingesetzt waren, kann man ermessen, welche Herausforderungen an Ernährung und Unterbringung sich unter den ohnehin schwierigen Kriegsverhältnissen daraus ergaben. Es wird aber auch deutlich, dass diese Menschen das Alltagsleben in Sindelfingen in den Kriegsjahren mitgeprägt haben.
Die Schülerarbeitsgruppe am Goldberg-Gymnasium hat in ihrer preisgekrönten Veröffentlichung von 1989 „Zwangsarbeiter in Sindelfingen 1940-1945“ aus den Unterlagen des Stadtarchivs über 100 Orte in Sindelfingen ermittelt, an denen Zwangsarbeiter untergebracht waren. Dabei muss unterschieden werden zwischen Kriegsgefangenen, die überwiegend in bewachten Lagern untergebracht waren, zwischen den sogenannten Westarbeitern - das waren Zivilarbeiter überwiegend aus den Niederlanden und Frankreich – und den sogenannten Ostarbeiterinnen und Ostarbeitern, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion seit Sommer 1941 in zunehmender Zahl zwangsweise aus den besetzten Gebieten ins Deutsche Reich zum Arbeitseinsatz deportiert wurden.
Gravierende Unterschiede
Die sogenannten Westarbeiter – überwiegend junge, gut ausgebildete Männer – waren häufig privat oder in Gaststätten untergebracht und konnten sich in der Stadt frei bewegen. Für die Menschen aus den besetzten sowjetischen Gebieten war die Unterbringung in geschlossenen Lagern vorgesehen. In der Versorgung und der gesamten Behandlung gab es zwischen den beiden genannten Zwangsarbeitergruppen gravierende Unterschiede. Dies war in erster Linie in der NS-Rassenideologie begründet, die die sogenannten „Ostvölker“ als minderwertig ansah. Hinzu kam noch, dass man sich vor möglichen Gefahren für die deutsche Belegschaft und die deutsche Bevölkerung allgemein fürchtete, wie aus einem Schreiben der Gestapo vom Februar 1942 deutlich wird, wo es heißt: „Mit Rücksicht darauf, dass die zum Einsatz kommenden Kräfte jahrzehntelang unter bolschewistischer Herrschaft gelebt haben und systematisch zu Feinden des nationalsozialistischen Deutschland und der europäischen Kultur erzogen wurden, sind besonders strenge Bewachungsmaßnahmen erforderlich.“
Zahlreiche Sindelfinger Firmen und die Stadt selbst beschäftigten Zwangsarbeiter, der überwiegende Teil war aber zur Rüstungsproduktion im Daimler-Benz-Werk eingesetzt. In Nähe zum Werk entstanden an der Riedmühle (heute innerhalb des Werksgeländes), an der Böblinger Allee (in der Nähe des heutigen Kundencenters) und am Daimlerweg große Barackenlager. Heute erinnern neben der Dokumentation der Schülerarbeitsgruppe eine Gedenktafel und zwei Sammelgräber auf dem alten Friedhof an die Geschichte der Zwangsarbeiter in Sindelfingen, die auch in dieser Serie an späterer Stelle nochmals aufgegriffen wird.
*Horst Zecha war lange Jahre Leiter des Stadtarchivs Sindelfingen, danach 15 Jahre Leiter des Kulturamts. Seit 1. Juli widmet er sich der Aufarbeitung der Sindelfinger Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts.
INFO: Das Stadtmuseum Sindelfingen befasst sich von September 2019 bis Mai 2025 unter dem Titel „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs und wie sich damals die Situation für die Menschen vor Ort darstellte. Dazu wird monatlich ein Objekt oder Thema in den Mittelpunkt gestellt, das vor 80 Jahren relevant war und auf das analog im Stadtmuseum Bezug genommen wird. So entsteht eine Reihe mit 69 Beiträgen, die monatliche Blitzlichter auf die Zeit von September 1939 bis Mai 1945 wirft und das damalige Geschehen auf lokaler Ebene lebendig werden lässt. Die Objektauswahl erfolgt anhand der Sammlungsbestände von Archiv und Museum. Darüber hinaus werden auch Erinnerungsorte einbezogen und, begleitend zum Projekt, Gespräche mit Zeitzeugen geführt und aufgezeichnet. Thema im Monat Juli 2022: Der Umgang mit Zwangsarbeitern als Spiegel der NS-Rassenideologie. Die zugehörige Vitrine im Sindelfinger Stadtmuseum ist seit dem 26. Juli 2022 dem Publikum zugänglich. Die Texte sind auch auf der städtischen Homepage nachzulesen unter https://www.sindelfingen.de/start/Freizeit+Tourismus/Langzeitprojektvor80jahren.html

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