
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Roman. Suhrkamp. 285 Seiten, 19,95 Euro. Es ist die Geschichte ihrer Familie, die Katja Petrowskaja nicht erzählt, sondern in kleinen tastenden Miniaturen erkundet. Eine Recherche am offenen Herzen der Erinnerung, für die die 1970 in Kiew geborene Autorin noch einmal die Wege ihrer Großfamilie abgeschritten hat: Jene weiten, die von Berlin über Österreich, Polen in die Ukraine und nach Russland führten, und jenen letzten, auf dem ihre jüdische Urgroßmutter 1941 in Kiew von einem deutschen Offizier niedergeschossen wurde, noch bevor sie den Ort des Schreckens Babij Jar erreicht hätte, wo von den deutschen Besatzern in zwei Tagen über dreißigtausend Juden hingemordet wurden.
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Serhij Zhadan: Mesopotamien. Roman. Suhrkamp. 362 Seiten, 23,60 Euro. Das aus dem Donbass stammende Multitalent Serhij Zhadan lebt seit seiner Studienzeit in Charkiv. Hier schlägt das unruhige Herz seiner Gedichte, Prosa und Musik. In den neun Geschichten seines Romans „Mesopotamien“ zeichnet er ein vor Leben, Liebe und Gefahr bebendes Porträt der ostukrainischen Stadt. Es sind die letzten Momente eines mitreißenden Tanzes auf dem Vulkan, zu dem Zhadans rhythmisch-intensive Sprache Lebenskünstler, Trunkenbolde, Fantasten und Gauner in ihrer schönen Eigenart versammelt. All dies haben Putins Bomben ausradiert, die Brücken dieses poetisch-vielstimmigen Zweistromlandes sind zerbrochen.
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Andrej Kurkow: Graue Bienen. Roman. Diogenes. 448 Seiten, 24 Euro. Die Arbeit in den Kohlegruben hat Sergej Sergejitsch zum Frührentner gemacht. Er ist einer der letzten Bewohner eines kleinen ukrainischen Dorfes im Donbass, das der Krieg entleert hat. Ausgerechnet sein Gegenspieler, der Separatist Paschka Chmelenko, hält die Stellung. Vor dem Hintergrund des mal näheren, mal ferneren Dauergrollens der Kämpfe leben beide nebeneinander her und kommen sich dabei näher. Bis der Bienenzüchter Sergej eines Tages beschließt, seine Bienenvölker in geordnetere Verhältnisse zu überführen. Es beginnt eine Reise durch ein von Checkpoints und sich ständig verschiebenden Grenzen zerteiltes Land. Der Roman des auf russisch schreibenden Ukrainers Andrej Kurkow handelt von einem prekären Miteinander in einer Grauzone zwischen den Fronten, das gerade mit brutaler Entschlossenheit endgültig zerstört wird.
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Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Hanser. 304 Seiten, 21,90 Euro. Viele sogenannte Russlandexperten und Putin-Kenner kriechen zu Kreuze, weil sie einräumen müssen, nicht für möglich gehalten zu haben, was wir gerade erleben. Doch wer Karl Schlögels Buch liest, weiß es besser: Bereits 2015, als „Entscheidung in Kiew“ erschienen ist, war man mitten drin in Putins Krieg. Schlögel führt an die verschiedenen Schauplätze, an denen er tobt: als Information-War in den Talkshows, als Krieg gegen die Geschichte, als Zerstörungswerk von Russland rekrutierter Freikorpsformationen, die sich sogenannte „Volksrepubliken“ unter den Nagel gerissen haben, um in diesem von der Geschichte so ungeheuer gebeutelten Land jenes schreckliche neue Kapitel aufzuschlagen, das wir nun lesen. Vielleicht hätte man schon früher und genauer Schlögels verzweifelte Bestandsaufnahme zur Kenntnis nehmen sollen.
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Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Roman. Rowohlt. 368 Seiten, 19,95 Euro. Mariupol liegt in Trümmern. Es ist die Geburtstadt von Natascha Wodins Mutter. Eines Tages tippt die Schriftstellerin den Namen ihrer Mutter in die Suchmaschine des russischen Internet ein, eher spielerisch als erwartungsvoll. Doch überraschend erscheint ein Resultat: Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko, Geburtsjahr 1920, Geburtsort Mariupol. Damit fängt alles an. Denn was der Treffer in der russischen Suchmaschine und das Glück weiterer Funde zutage fördert, ist das Los einer ukrainischen Familie, die von den lichten Höhen gesellschaftlichen Ansehens durch die ideologischen Umwälzungen von russischer Revolution, stalinistischem Terror, nationalsozialistischer Okkupation durchgereicht wird, bis sich ihre Spur in den unwirtlichen Randzonen der Nachkriegszeit verliert. In Natascha Wodins großem Roman erwacht die versunkene Welt dieser Menschen in einer gleichsam dokumentarischen Imagination zum Leben, allerdings nur, um auf ihren Untergang zuzutreiben.
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