

Kreis Böblingen. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit all seinen Schreckensbildern und schlimmen Auswirkungen, hat sich im Kreis Böblingen im Alltag eingenistet. Dazu gehört der Ukraine-Wochenbericht der Stadt Sindelfingen, der die Entwicklung der Geflüchtetenzahlen aus der Ukraine zeigt und über aktuelle Themen informiert. In dieser Woche steht da ganz nüchtern: „In Sindelfingen sind aktuell 565 Geflüchtete aus der Ukraine gemeldet.“ Und: „Der fünfte Hilfstransport ist in Rumänien angekommen und wird Anfang nächster Woche im Zielort Kirowohrad erwartet.“
Auf Einladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und des ukrainischen Botschafters Oleksii Makeiev nahm Sindelfingens Oberbürgermeister Dr. Bernd Vöhringer an der zentralen Veranstaltung am Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine im Schloss Bellevue in Berlin teil. Bernd Vöhringer: „Die Zerstörung und das Leid, das er verursacht, sind ungeheuerlich und waren in Europa lange unvorstellbar. Umso wichtiger ist es, weiterhin gemeinsam als europäische Wertegemeinschaft Solidarität mit der Ukraine zu zeigen, um für unsere Vorstellung einer freien Welt einzutreten.
„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“, sagt die aus der ukrainischen Kiew stammende Schönaicher Bürgermeisterin Anna Walther, die einerseits seit einem Jahr „fassungslos“ darüber ist, was in ihrer alten Heimat geschieht, andererseits auch, weit weg davon und in Sicherheit lebend, die Distanz zum Krieg spürt. „Ich bin natürlich froh , dass es meinem Bruder und meinen Freunden in Kiew bislang gut geht“, sagt sie. „Aber man kann sich hier natürlich nicht vorstellen, wie es ist, permanent in Angst vor dem nächsten Angriff leben zu müssen.“ In ihrer Rolle als Bürgermeisterin hat Anna Walther seit dem Krieg eines gelernt: „Verwaltung und Bürger können zusammen Krisen managen. Ich bin dankbar für die enorme Solidarität und Hilfsbereitschaft, die vor Ort nach wie vor gezeigt wird.“
Nur wenn Alona Negrich, Musikerin und Musiklehrerin am Böblinger Max-Planc-Gymnasium auf der Bühne steht oder arbeitet, schafft sie es, dunkle Gedanken über den Krieg in ihrer alten Heimat beiseite zu schieben. Sie ist in Winnyzia geboren und aufgewachsen, ihre Mutter lebt noch dort. Ihr Bruder auch – wenn er nicht in den Kampf ziehen muss. „Jetzt ist er gerade wieder im Donnbass“, sagt sie mit stockender Stimme und hofft, dass er lebend wieder zurückkommt. „Rund 30 Prozent aller Soldaten in einer Einheit kommen dort ums leben“, berichtet sie.
Alona Negrich selbst versucht seit einem Jahr alles ihr Mögliche zu tun, um den Menschen in der Ukraine zu helfen. Sie trat bei Solidaritätskundgebungen wie auf dem Sindelfinger Marktplatz auf, gab mit ihrem mann Arno Haass etliche Benefizkonzerte, telefoniert mit Zuhause. Und fühlt sich innerlich ausgelaugt. „Diese Situation belastet mich schwer, es ist mittlerweile so, dass ich selbst kaum noch Kraft habe. Es ist alles so aussichtslos“, sagt die Musikerin. „Ich wünsche mir so sehr, dass dieser schreckliche Krieg endlich ein Ende hat.“
„Der schreckliche Angriffskrieg auf die Ukraine, der Ende Februar begann, änderte alles – auch für unseren noch jungen Verein „Helfen statt Hamstern“, der erst 2020 im Zuge der Corona-Krise das Licht der Welt erblickte, schreibt der Verein auf seiner Homepage. Heike Stahl erinnert sich noch gut an die WhatsApp, die Max Reinhardt, einer der Initiatoren von „Helfen statt hamstern“, versendet hatte. „Da stand: Wir müssen etwas tun. Kurz darauf gab es dann das erste Treffen im Oberlichtsaal.“ Die Idee: Einen Spendenaufruf anleiern und zwei Sprinter organisieren, die die Hilfsgüter in die Ukraine bringen. „Es kam dann schnell anders.“ Aus dem Oberlichtsaal wurde die Klosterseehalle und „Helfen statt hamstern“ wurde „regelrecht überrannt“, erzählt Heike Stahl: „Jeder hat irgendwie geholfen. Mit Kleiderspenden, Umzugskartons oder durch Mitarbeit in der Klosterseehalle.“
Bei allem Erschrecken über den Krieg und die Schicksale der geflüchteten Menschen ist es die große Hilfsbereitschaft, die Heike Stahl beeindruckt hat: „Das war sehr schön zu sehen. Auch viele Ukrainerinnen haben ihre Hilfe in der Halle angeboten. Da sind Freundschaften entstanden.“
Zu den vielen Geschichten, die der Ukraine-Krieg auch im Kreis Böblingen schreibt, gehört die von Andreo. Er war im März vergangenen Jahres mit seiner Mutter vor dem Krieg aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Neun Monate lebten die Beiden in Maichingen. Dem Schüler war es wichtig, seine Landsleute über „Helfen statt Hamstern“ aus der Ferne zu unterstützen: Eines Tages stand er in der Klosterseehalle und bot seine Hilfe an. Seit Dezember sind Andreo und seine Mutter wieder in Kiew. Familie, Freunde und die Schule – „das waren die Gründe, warum wir zurückgekehrt sind“, sagt Andreo im Telefonat mit der SZ/BZ.
Angst vor russischen Angriffen habe er nicht, erklärt der Junge. In Kiew fühle er sich jetzt sicher. Das sei vor einem Jahr anders gewesen. „Damals flogen jeden Tag Raketen“, erinnert er sich. Davon zeugen Spuren der Verwüstung neben der Autobahn, wie er gesehen hat. Den Abschied von Deutschland hat Andreo, der einige Zeit das Sindelfinger Stiftsgymnasium besucht hat, mit gemischten Gefühlen erlebt: „Ich war glücklich und traurig. Ich habe in Sindelfingen schon ein paar Freunde gefunden. Aber ich bin auch froh, wieder in der Heimat zu sein.“