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Kreis Böblingen: Der Chefarzt der Intensivmedizin Dr. Andreas Ostermeier erklärt im SZ/BZ-Interview, warum die Lage in den Kliniken trotz vergleichsweise niedriger Zahlen angespannt ist

Corona: „Der Engpass liegt in der Intensiv-Pflege“

Deutschlandweit schlagen Intensivmediziner Alarm und fordern einen härteren Lockdown, um die Intensivstationen zu entlasten. Doch was steckt dahinter und weshalb ist die Situation in den Kliniken in der dritten Welle trotz fortgeschrittener Impfung der Risikogruppen so angespannt?

Die SZ/BZ hat mit Dr. Andreas Ostermeier, dem Chefarzt des Zentrums für Anästhesie und Intensivmedizin Böblingen und Herrenberg im Klinikverbund Südwest über die aktuelle Lage auf den Intensivstationen, die neue Altersstruktur der Patienten und die Auswirkungen gesprochen.

Der Höchststand an stationären Covid-Patienten im Klinikverbund lag während der zweiten Welle bei rund 120. Warum ist die momentane Auslastung von 65 Patienten mit Stand vom Freitag bereits jetzt kritisch?

Dr. Andreas Ostermeier: „In der dritten Welle sind diese Zahlen noch nicht so hoch. Aber sie alleine erlauben noch kein schlüssiges Bild. Eigentlich ist angestrebt, 30 bis maximal 40 Prozent der Intensivbetten mit Covid-Patienten zu belegen, um die Versorgung der anderen Intensiv-Patienten zu gewährleisten. Momentan liegen wir bei 58 Prozent Covid-Patienten in Böblingen. Das ist eine extrem hohe Belastung. Auch in anderen Häusern wird es eng. Wir müssen bereits wieder planbare Operationen verschieben.“

Ein Großteil der über 70- und 80-Jährigen und auch des Pflegepersonals sowie der Ärzte ist mittlerweile geimpft. Sollte sich da nicht die Situation auf den Intensivstationen verbessern?

Dr. Andreas Ostermeier: „Besonders erfreulich ist, dass wir durch die Impfungen im Prinzip keine Mitarbeiter-Ausfälle durch Covid-Erkrankungen haben. Und: Kein einziger unserer stationären Patienten mit einer Covid-Erkrankung ist geimpft. Das zeigt, dass die Impfungen wirken. Die Situation erschwert, dass wir vermehrt jüngere Patienten haben. Während das Durchschnittsalter der stationären Covid-Patienten in der ersten und zweiten Welle bei uns in Böblingen bei 66 Jahren lag, liegt es bei der dritten Welle bei 55 Jahren. Das macht schon einen Unterschied.“

Welchen Unterschied macht das?

Dr. Andreas Ostermeier: „Momentan haben wir bei 65 stationären Covid-Patienten im Verbund eine Beatmungsquote von rund 30 Prozent. In den ersten Wellen waren es 15 bis 20 Prozent. Die jüngeren Patienten liegen oft länger auf den Intensivstationen und benötigen mehr Behandlungen. Bei vielen Über-80-Jährigen gab es Patientenverfügungen oder den Wunsch, nicht jegliche Intensivtherapie nutzen zu wollen. Einige invasive Therapien sind ab einem gewissen Alter auch nicht unbedingt sinnvoll. All diese Themen entfallen bei den jüngeren Patienten. Wir haben also eine vergleichbare Auslastung bei niedrigerer Patientenzahl und längerer Liegedauer.“

“Das ist für die Mitarbeiter sehr belastend”

Wie schlägt sich das auf den Klinikalltag bei Ihnen in Böblingen nieder?

Dr. Andreas Ostermeier: „Eigentlich ist in der Behandlung von Covid-Patienten mittlerweile eine gewisse Routine da. So ist es möglich, dass die Mitarbeiter die Patienten, wie andere auch, emotional ein stückweit distanzierter, aber professionell versorgen können. Aber wenn die Patienten sehr lange liegen und es auch bei jüngeren vermehrt schwere Verläufe gibt, verändert sich die Emotionalität. Das ist für die Mitarbeiter sehr belastend.“

Was macht die Behandlung der Covid-Patienten so aufwendig?

Dr. Andreas Ostermeier: „Vorneweg ein positiver Aspekt: Wir haben bei der Behandlung keine so neue Situation, wie sie es noch vor einem Jahr war. Es gibt Therapiepläne und die Erleichterung, dass Geräte und Schutzausrüstung vorhanden sind. Aber die Arbeitsbelastung ist weiter extrem hoch. Beispielsweise haben wir noch nie so viele Patienten in Bauchlage gehabt. Vor Corona waren das ein, maximal zwei Patienten gleichzeitig. Momentan sind drei bis vier der Standard. Diese müssen alle 12 bis 18 Stunden gedreht werden. Dafür sind ein Arzt und drei Pflegekräfte – bei den häufig doch sehr übergewichtigen Patienten – bis zu einer Stunde beschäftigt. Dazu kommt, dass sehr viele Covid-Patienten auf Intensiv auf eine Nierenersatztherapie angewiesen sind, das war vor Corona eher die Ausnahme.“

Was zieht all das nach sich?

Dr. Andreas Ostermeier: „Wir müssen inzwischen Patienten auf die Allgemeinstation verlegen, die einen höheren Pflegeaufwand haben und bisher bei uns oder zumindest auf der Intermediate-Care behandelt wurden. So wird auch die Belastung der Allgemeinstationen höher. Dazu kommt, dass allein durch das permanente An- und Ablegen der Schutzkleidung alles länger dauert und anstrengender ist. Sobald man als Arzt oder auch als Pfleger einmal bei einem Covid-Patienten ist, kann man nicht direkt auf andere, vielleicht dringliche Dinge reagieren. Das erschwert es uns, allen Patienten gerecht zu werden. “

Gibt es inzwischen bessere Möglichkeiten die Erkrankung medizinisch zu behandeln?

Dr. Andreas Ostermeier: „Im Wesentlichen hat sich nichts geändert seit Beginn der zweiten Welle. Es ist auch kein unmittelbarer Durchbruch zu erwarten. Es gibt deutschlandweit festgelegte Leitlinien, an denen wir uns orientieren. Es werden viele Medikamente diskutiert, aber es gibt keinen durschlagenden Erfolg. Wir wissen zwar, das Cortison oder gerade auch bei jüngeren Patienten die frühe Gabe von Remdesivir etwas bringt. Aber viele andere Mittel haben entweder keinen Nutzen oder schaden sogar.“

“Auf Dauer können wir die Wellen nicht aushalten”

Kurz nach der ersten Welle sagten Sie, man könne nicht alle halbe Jahr solche Wellen abdecken. Inzwischen befinden wir uns in der dritten Welle. Welche Auswirkungen hat das?

Dr. Andreas Ostermeier: „In Böblingen haben wir es bisher geschafft – entgegen manch anderen Intensivstationen – den Intensivregelbetrieb zu halten. Wir sind aber nicht in der Lage, zusätzliche Betten aufzumachen, wie in der ersten Welle. Wir hätten zwar Geräte und auch in der Ärzteschaft wäre das irgendwie machbar. Aber der Engpass liegt in der Intensivpflege. Das ist kein spezielles Böblinger Problem – es findet sich im ganzen Land. Die Pflege ist der Schlüssel und genau die ist extrem belastet.“

Was bedeutet das für die kommende Zeit?

Dr. Andreas Ostermeier: „Den Mehraufwand in der Pflege können wir nicht dauerhaft mit dem gleichen Personal bewältigen. Schon vor Corona war die Auslastung sehr hoch. Die gesetzten Personaluntergrenzen sind momentan sehr schwierig zu erfüllen. Und generell haben wir extreme Probleme, neue Intensiv-Pflegekräfte zu bekommen. Auf Dauer können wir, so glaube ich, die Wellen nicht aushalten.“

“Die Patienten sind im Stress, haben Atemnot und Todesängste”

Sind wir nach 14 Monaten der Pandemie zu sorglos im Umgang mit dem Coronavirus geworden?

Dr. Andreas Ostermeier: „Ich glaube leider, dass es in der Bevölkerung immer noch nicht bei allen angekommen ist, was es für die Menschen bedeutet, mit Covid auf der Intensivstation zu liegen. Man wird nicht einfach für zwei Wochen schlafen gelegt und beatmet und danach ist alles gut. Vor der Beatmung sind die Patienten im maximalen Stress, sie haben Atemnot und Todesängste. Nach einer Beatmung müssen sie erst langsam wieder Normalstationsfähig gemacht werden. Und man darf nicht außer Acht lassen, es handelt sich trotz all der gesammelten Erfahrungen um eine sehr komplikationsträchtige Therapie – so wie jede invasive Therapie mit Risiken verbunden ist.“

Mit der Entlassung aus dem Krankenhaus ist es oft aber noch nicht getan.

Dr. Andreas Ostermeier: „Ja, es folgen Rehas oder auch Long-Covid. Nach der überstandenen Infektion, sind viele von der zeitweise aufgetretenen eingeschränkten Nierenfunktion oder der verminderten Lungenfunktion nach einer langen Beatmung erst einmal in ihrem Alltag nicht beeinträchtigt. Aber später sind diese Reserven nicht mehr da, wenn andere Erkrankungen dazu kommen. Das wird sich bei vielen Patienten erst in zehn, 20 oder 30 Jahren zeigen. Auch wenn man die Intensiv-Therapie überstanden hat, heißt das nicht, dass die Folgen der Infektion aus dem medizinischen Lebenslauf ausradiert sind.“

“Die Grippe gibt es in
diesem Jahr quasi nicht”

Welche Prognose oder Hoffnung haben Sie für das zweite Halbjahr 2021?

Dr. Andreas Ostermeier: „Ich hoffe nicht, dass es eine vierte Welle geben wird. Aber das lässt sich nicht seriös beantworten. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass die Impfung der Schlüssel ist. Es kann kein Zufall sein, dass wir quasi keine Infektionsfälle unter dem Personal mehr haben und keinen einzigen geimpften stationären Covid-Patienten. Wenn wir es nun schaffen, uns die nächsten zwei bis drei Monate weiter am Riemen zu reißen und unsere Kontakte einzuschränken, bis das Impfen weiter fortgeschritten ist, hoffe ich, dass Corona ein handelbares Problem wird.“

Sie bleiben also optimistisch?

Dr. Andreas Ostermeier: „Ja, ich bin optimistisch: Es wird ein 'Nach Corona' geben, aber das geht nicht von heute auf morgen. Jetzt müssen wir daher weiter Kontakte vermeiden und die Hygienevorschriften einhalten. Dass Masken, Abstand und Hygiene viel bringt, zeigt sich alleine dadurch, dass wir keinen Influenza-Patienten haben. Die Grippe gibt es in diesem Jahr quasi nicht. Nur leider ist das Coronavirus besser übertragbar.“