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Böblingen: Seit 10 Jahren herrscht Ruhe im Rathaus-Turm / Experten untersuchen Möglichkeiten, das Glockenspiel wieder in Betrieb zu nehmen

Das Schweigen der Hämmer

Martin Ammann schiebt sich durch die schmale Luke im Dach des Böblinger Rathauses. Höher geht es hier kaum noch. Aus dem Trauzimmer neben dem Wolfgang-Brumme-Saal über die enge, stählerne Wendeltreppe ins Dachgeschoss, dann über die schmale Stiege in den Zwischenstock unter dem Dach, und dann über die ausziehbare Leiter hinaus in den Glockenturm. Man merkt, dass schon lange keiner mehr hier oben war.

Der Schiebemechanismus der Leiter aus stabilen Stahrohren ist schwer gängig und auch die Dachluke will nicht gleich so zurückklappen wie sie sollte. Zum Schluss noch ein paar Sprossen auf der Leiter im aufgesetzten Turm, dann ist der Gipfel erreicht: das Glockenspiel. In Reih und Glied hängen hier 35 Glocken in der Glockenstube. Ein grünliche Patina hat die Bronze überzogen. Doch dieser Stolz der Stadt aus dem Jahr 1963 macht seit rund 10 Jahren keinen Mucks mehr.

„Dongggg.“ Mit Nachhall schwingt der Glockenton über den Marktplatz. Martin Ammann vom Amt für Gebäudemanagement hat den Hammer von Hand bewegt. Der erste Klang seit Jahren. Ansonsten herrscht Ruhe. Irgendwo zwischen dem Steuermodul unterm Rathausdach und den Magneten, die das Schlagwerk bewegen, sitzt der Wurm. Die Glocken haben ausgespielt.

Schon in den Jahren 1951/1952, als die Böblinger ihre Rathaus wieder aufbauten, war ein Glockenspiel im Rathausturm geplant. „Der Einbau dieses Glockenspiels wurde seinerzeit aus finanziellen Gründen zurückgestellt. Nachdem sich die Finanzlage der Stadt in den folgenden Jahren gebessert hat, hat der Gemeinderat im Jahre 1962 den Einbau eines Glockenspiels beschlossen. Dieser Beschluss wurde von der Bevölkerung allgemein begrüßt, irgendwelche negativen Reaktionen hat es nicht gegeben“, schrieb 1969 der damalige Erste Bürgermeister Gerhard Wolf an den Bertelsmann Prokuristen Dr. Günther Massmann, nachdem in Gütersloh über ein Glockenspiel am Rathaus diskutiert wurde. Nur nebenbei: Das Glockenspiel in Gütersloh spielt bis heute – analog mit Lochkarten.
Man erkennt, ein Glockenspiel in der Stadt zu haben, war in den 50er und 60er-Jahren schwer angesagt. Und nie süßer mochten die Glocken in den Ohren der Böblinger geklungen haben, als der Stuttgarter Kirchenmusikdirektor Walther Lutz in seinem Gutachten zum neuen Glockenklang im Rathausturm schrieb: „Dies ist ein großer Vorzug des Glockenspiels von Böblingen gegenüber etwa dem Stuttgarter, abgesehen von der klanglich besseren Aufhängung, die das Böblinger Glockenspiel auszeichnet.“

Doch kein Lob ohne Einschränkung: „Daß der Turm des Rathauses nicht sehr hoch ist, wirkt das Glockenspiel beim Anhören vom Marktplatz aus nicht sehr günstig; es empfiehlt sich, das Glockenspiel aus etwas größerer Entfernung anzuhören; dort wird es in seiner klanglichen Schönheit voll zur Geltung kommen.“ Das mit der Schönheit ist so eine Sache - jedenfalls scheint die Premiere nicht auf ungeteilten Beifall gestoßen zu sein.

So sieht sich der Kirchendirektor genötigt auf einen weiteren Umstand aus der gebührenden Entfernung hinzuweisen: „Daß das Glockenspiel bei der Einweihung manche Hörer enttäuschte, hat auch seine Ursache auch darin, daß die beiden Spieler sich mit der Eigenart der Glockenspieltechnik erst vertraut machen müssen.“ Auch die Hörer müssten sich erst an den Klang gewöhnen, zumal das Spiel zwischen 2- und 4-gestrichenen C nicht die schöne, große Terz anschlägt, sondern die ungewohnte kleine.

Und daran hat sich nichts geändert. Auch nach 10 Jahren der Stille weiß Martin Ammann: „Das Glockenspiel ist nett, aber es hat auch schräge Töne.“ Und auch laute. Vor allem die Rathausmitarbeiter können wohl getrost den Telefonhörer zur Seite legen, wenn im Turm die große Bimmelei losgeht. Doch das ist Schnee von gestern? Vielleicht. Denn das Schweigen der Hämmer im Glockenturm könnte bald ein Ende haben. Ein Antrag aus dem Gemeinderat hat die Verwaltung aufgefordert zu prüfen, wie groß der Aufwand ist, das Glockenspiel wieder in Gang zu setzen.

Zwar spielten die Glocken seit der Runderneuerung 1995 schon digital, doch hätte die Anlage längst einen Platz im Technikmuseum verdient. Das Steuermodul sieht aus wie ein Requisit von Raumschiff Orion aus der Raumpatrouille und die Speicherkarten mit schlappen 48 MB für die Melodien, sind jede für sich schwerer als ein heutiges Smartphone. Dafür gibt es davon einen ganzen Satz. Denn mehrmals pro Jahr und Tag wurden die Melodien gewechselt: von „Macht hoch die Tür“ im Advent bis „Der Mond ist aufgegangen“ im Herbst –quer durch die Volks- und Kunstliedliteratur. Eingespielt wurden die Stücke über ein Keyboard, das an das Steuerungsmodul angeschlossen wurde. Das Keyboard steht heute noch im Schrank auf dem Dachboden des Rathauses.

Ob das alles noch zu gebrauchen ist, oder ob eine komplett neue Steueranlage eingebaut werden müsste und nicht zuletzt was das Ganze kosten würde, soll nun eine Fachfirma herausfinden, sagt der Leiter des Amts für Gebäudewirtschaft, Timo Nußbaum. Am Ende wird der Gemeinderat darüber entscheiden, ob es ihm wert, das einstige Schmuckstück wieder aufzupolieren. Doch bei der Entscheidung wird es wohl auch nicht nur um die Technik gehen, sondern auch um die Anzahl der täglichen Einsätze – damit die Rathausmitarbeiter nicht zu oft den Hörer zur Seite legen müssen.

**Stichort: Das Carillon **

Das Carillon ist ein spielbares Glockenspiel, das seit dem 17. Jahrhundert zunächst vor allen in den Niederlanden, Belgien und Nordfrankreich verbreitet war. Allein in Rotterdam sind drei Carillons aufgehängt – das größte im Stadhuis mit 63 Glocken, das kleinste in der Pilgerväterkirche mit 44 Glocken. Letzteres entspricht von der Anzahl der Glocken her ungefähr der Glockenspiele in Böblingen und Sindelfingen mit 35 beziehungsweise 40 Glocken. Als größtes Carillon Europas gilt das im Roten Turm in Halle mit 81 Glocken, die 46,5 Tonnen auf die Waage bringen. Das Geläut im Böblinger Rathausturm wiegt gerade mal 1,9 Tonnen. Während die Glockenspiele in Böblingen und Sindelfingen zur Zeit schweigen, ist das in Herrenberg täglich zu hören: um 8, 10, 11,12,15,16 und um 18 Uhr. Wie das Carillon im Glockenmuseum klingt, ist unter*www.glockenmuseum-stiftskirche-herrenberg.de/glocken/carillon*zu hören. Am Samstagabend, 17 bis 18 Uhr, gibt der Glockenist Toru Takao ein Konzert auf dem Herrenberger Carillon mit seinen 50 Glocken. Die sind am besten im Kirchhof zu hören. Der Eintritt kostet 5 Euro.