![Am 23. Februar setzen Wähler ihr Kreuzchen.](/i/fileadmin/user_upload/import/artikel/102/59102/59102_23167_orig_58755_Wahlkreuz_Philip_150596953.jpg?_=1737553722&w=318&a=1.7777777777777777777777777777778&f=cover)
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Den SZ/BZ-Podcast "Willi und Dödel" mit Florian Wahl hören Sie hier.
Kreis Böblingen. Der Böblinger SPD-Landtagsabgeordnete Florian Wahl war zusammen mit dem Landtags-Vizepräsidenten Daniel Born in der Ukraine. Als queerpolitischer Sprecher seiner Fraktion, in dessen Funktion er sich sich für die Rechte nicht heterosexueller Menschen einsetzt, wurde er von „Kyiv Pride“ eingeladen, um sich in der Hauptstadt selbst Eindrücke zu verschaffen, wie es den Menschen – vor allem jenen, die nicht heterosexuell sind – in den aktuellen Kriegszeiten in der Metropole geht.
„Kiew ist eine europäische Stadt, das total nah an uns dran. Die Leute sehen auch alle so aus wie Du und ich. Und auf der anderen Seite merkt man die ganze Zeit: Das ist eine Stadt in der Bedrohung. Das macht es fast noch grausamer, weil man merkt wie profan dieser Krieg ist. Es herrscht Alltag wie in Böblingen – nur mit Bomben“, erzählt er im SZ/BZ-Podcast „Willi und Dödel“ von seinen Eindrücken. Hier ein Auszug:
Sie waren in Kiew, um dort mit Menschen aus der zu treffen, die nicht heterosexuell sind und sich mit ihnen über deren Situation in der aktuellen Zeit auszutauschen. Geht es diesen Menschen denn anders, als jenen, die nicht queer sind? Gibt es da einen Unterschied?
Florian Wahl: „Ja und nein. Den Krieg bekommen alle zu spüren, eine ganz, ganz schwierige Situation für alle Menschen in der Ukraine. Es ist ein Land im Krieg, ein Land voller Unsicherheiten, ein Land, das mit regelmäßigen Luftangriffen, wo sich Angehörige direkt an der Front befinden und andere auf der Flucht sind. Das betrifft alle.
Die queere Gemeinschaft steht dazu vor besonderen Herausforderungen. Ein Beispiel: Seit der Krieg begonnen hat, sind Hochzeiten in der Ukraine um das Zehnfache angestiegen. Weil theoretisch für jeden jungen Mann in der Ukraine ein Kriegseinsatz bevorsteht, wird verstärkt geheiratet. Diese Möglichkeit hat beispielsweise ein schwules Paar nicht. Eine Heirat hat einerseits eine symbolische, eine Liebes-Ebene, andererseits aber auch eine ganz schnöde Ebene der Absicherung. Was ist, wenn etwas passiert? Das ist, wenn ein Mann – oder eine Frau – am nächsten Tag auf einmal an die Front muss , ein ganz krasses Thema. Da geht es um ein Menschenrecht, um die Möglichkeit, dass sich Lebenspartner gegenseitig absichern können.“
Ist das die einzige Besonderheit?
Florian Wahl: „Nein. Denn Putin führt ja nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, sondern er führt ja auch einen gegen die freie Welt, gegen den so genannten dekadenten Westen – er redet immer von ,Gayropa', er führt ihn letztendlich auch gegen Frauenrechte, gegen Schwulenrechte, gegen LGBT-Rechte, gegen Demokratie, die freie Presse. Und da betrifft es die Leute ganz besonders, weil er ganz individuell gegen diese Community, Menschen die Menschen, die sie lieben, so wie sie geboren sind, einen Feldzug führt. Das ist eine besondere Situation.“
Wie stand es denn um die Rechte in der Ukraine für die queere Community vor dem Krieg? Hat sich durch den Krieg etwas verändert?
Florian Wahl: „Ja, es hat sich etwas verändert – und das schon seit 2015. Seitdem ist die Ukraine, was LGBTQ-Rechte betrifft auf einem ganz ordentlichen Weg, weil sie sich ganz bewusst auch in Richtung Europa orientiert. Es hat sich seit Kriegsbeginn noch viel mehr verändert, weil die Community ganz stark für europäische Werte steht.
Die Akzeptanz wird größer – toll ist es, dass es zum Thema gleichgeschlechtliche Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaften jetzt einen Gesetzentwurf gibt, der früher nie eine Chance auf Zustimmung gehabt hätte. Jetzt sieht es so aus als könnte er beschlossen werden – die Mehrheit der Bevölkerung ist in jedem Fall dafür. Die Entwicklung bezüglich queerer Rechte ist positiv – aber es gibt natürlich auch noch viele Menschen, die ganz starke Vorbehalte haben, die Kirche in der Ukraine spielt dabei eine große Rolle.
Auf der anderen Seite gibt es eine queere Gemeinschaft, die in Kriegszeiten besonders zusammengerückt ist. So wurde in Kiew zum Beispiel ein Community Center gegründet.“
Ein Community Center? Was ist das? Darf da jeder einfach reingehen, wie zum Beispiel in ein Jugendhaus?
Florian Wahl: „Es ist ein Ort, der etwas versteckt liegt, wo sich Jugend- oder Transgruppen treffen können, wo Beratung stattfindet, wo man Arbeiten kann, wo man Schutzräume findet, wo sich ein schwuler Junge oder ein lesbisches Mädchen hinwenden kann, um Hilfe zu bekommen oder vergleichbare andere Menschen zu treffen, die ähnliche Probleme haben. Es gibt dort auch Leute, die vor der eigenen Familie fliehen, weil sie queer sind. Es werden Spenden gesammelt, es gibt ganz viele Formen von Hilfeleistungen. Alles, was dort gemacht wird, geschieht ohne staatliche Hilfe.“
Das klingt relativ normal für eine Hauptstadt eines Landes, das sich seit mehr als einem Jahr im Krieg befindet. Wie ist das Leben dort?
Florian Wahl: „Nach einer 15-stündigen Zugfahrt von Polen nach Kiew, die alles andere als ein normaler Trip ist, weil man da schon sehr viel von der Belastung mitkriegt, steigt man am Bahnhof aus und steht vor einem Hochhaus, das schon einige Angriffe hinter sich hat. Und man sieht eine hohe Militärpräsenz in der Stadt oder Sandsäcke, die Denkmäler schützen und auch ausgebrannte Panzer.
Aber dazwischen findet das ganz normale Leben statt. Mit Menschen, die in Kneipen und Cafés mit Außenbestuhlung sitzen, mit Straßenmusikern. Kiew ist eine europäische Stadt, die Leute sehen auch alle so aus wie Du und ich. Und auf der anderen Seite merkt man die ganze Zeit: Das ist eine Stadt in der Bedrohung. Das macht es fast noch grausamer, weil man merkt wie profan das ganze ist. In Kiew herrscht Alltag wie in Böblingen – nur mit Bomben. Man ist im Hotelzimmer und auf einmal meldet eine App Fliegeralarm und fordert dazu auf, in den Bunker zu gehen. Zwei Minuten später ist Entwarnung. Man sieht, dass die Leute irgendwie gelernt haben damit zu leben. Es ist eine krasse Normalität in einer ganz unnormalen Umgebung. Eine Stimmung, die ich so noch nicht kannte. Das hat mich ziemlich mitgenommen. Das Leben hört ja nicht auf, weil Krieg ist. Die normalen Probleme die es bis dahin gab, werden noch einmal potenziert.“