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Der in Sindelfingen aufgewachsene Künstler Gianni Caravaggio, Jahrgang 1968, hat derzeit seine bisher größte Einzelausstellung in Reutlingen

Marmorbrocken neben Zuckerstücken

Von Peter Bausch

SINDELFINGEN. Er kombiniert weißen Carrara-Marmor, grauen Badiglio-Stein, Polystyrol und Zuckerwürfel, streut Babypuder auf einen Zylinder aus grünem Guatemale-Marmor und hängt ein transparentes Foto von sich selbst mit der Hand eines sichtbar älteren Menschen mitten in den Raum: Gianni Caravaggio, 1968 in Italien geboren, in Sindelfingen aufgewachsen, bestreitet mit “Als Natur jung war” seine bislang größte Einzelausstellung im Kunstmuseum Reutlingen.

In den Wandelhallen an der Eberhardstraße hat Gianni Caravaggio auf einer kompletten Etage allen Platz der Welt, um seine poetischen Visionen auszubreiten. “Was mich an der Natur anregt und verzaubert, sind weniger die einzelnen und einzigartigen Manifestationen an sich, wie ein Baum oder eine Landschaft”, schreibt er im Katalog der Ausstellung: “Sondern eher die Tatsache, dass diese Manifestationen in mir eine tiefe Vertrautheit wachrufen, von der ich spüre, dass sie jeher in mir ist. Ein Bild aus den Tiefen der Erinnerung klingt an und erschließt meine Vorstellungskraft.”

GIanni Caravaggio, der seit 2010 den Lehrstuhl für Bildhauerei an der Academia di Belle Arti die Brera in Mailand besetzt, ist in seiner Jugend von Dr. Ingrid Burgbacher-Krupka, der Chefin des Vereins “Kunst + Projekte Sindelfingen” entdeckt worden. Die Kuratorin hat den Kunststudenten mit dem amerikanischen Konzeptkünstler Lawrence Weiner zusammengebracht, der am Salzhaus seine Worttafel “Broken Off” angebracht hat, die für eine der längsten und interessantesten Kunstdiskussionen des 20. Jahrhunderts in Sindelfingen sorgt.

In der Ausstellung mit dem lapidaren Titel “Weihnachten 2000” präsentiert Gianni Caravaggio in der Galerie der Stadt Sindelfingen damals eine “naturalisierte Fahne” der Sindelfiinger Markung, zeigt aber auch den Fotodruck auf Overhead-Folie “Melancholie oder transparent” aus dem Jahr 1995, der jetzt auch wieder in Reutlingen auftaucht. Aufgehängt an einem Faden im Raum mit der Skulptur “Sugar no sugar molecule” aus Marmor und Zuckerwürfeln. Wie bei Caravaggio üblich lohnt sich ein zweiter Blick: Der Kopf des damals 27-jährigen Künstlers stützt sich auf eine Hand, die sichtbar älter ist. Eine Foto-Montage, die Bände spricht für das Selbstverständnis des Italieners, der mit Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft spielt.

Gianni Caravaggio, der weiter zwischen Mailand und Sindelfingen pendelt, wo Mutter Anna Caravaggio an der Oberen Vorstadt die Pizzeria Italvino betreibt, hat inzwischen Dutzende von internationalen Preisen bekommen, stellt in Galerien auf der ganzen Welt aus und vergißt dabei nicht seine Wurzeln: “Als Heranwachsender besuchte ich oft die Staatsgalerie Stuttgart, um mir das Bild Böhmische Landschaft (um 1808) von Caspar David Friedrich anzusehen. Ich lebte mit meinen Eltern in Sindelfingen und die Staatsgalerie war gut erreichbar. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob die melancholische Stimmung des Gemäldes die eines anbrechenden oder eines zu Ende gehenden Tages ist. Beide Möglichkeiten berühren mich, der Anfang und das Ende.”

Gianni Caravaggio liefert 2016 für das Projekt “Zeitkapsel” des Vereins “Kunst + Projekte” seinen Beitrag in den Briefen, die Ingrid Burgbacher zusammengetragen hat: “Die 25 Jahre zeigen, wie ein Ort langsam und nicht reibungslos Bewusstsein entwickelt. Das Beispiel Sindelfingen kann man als Metapher nehmen, die sich an jedem Ort, auch in einer Kulturgroßstadt, aufzeigt, wenn ein substanzieller Dískurs fehlt und welche Dynamiken sich abspielen und welche Energie notwendig ist, um Bewusstsein zu entwickeln.”

Info

Die Ausstellung “Als Natur jung war” mit rund zwei Dutzend Arbeiten von Gianni Caravaggio ist bis zum 30. Januar 2022 im Kunstmuseum Reutlingen Konkret (www.kunstmuseum-reutlingen.de) in den Wandel-Hallen an der Eberhardstraße 14 in Reutlingen zu sehen.