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Geschichte

Sindelfingen: An diesen Stolpersteinen soll man Anstoß nehmen

Gunter Demnig verlegt die ersten fünf Sindelfinger Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer der NS-Diktatur.

Von Bernd Heiden

Sindelfingen. Lili Ullmann, Siegfried Ullmann, Emil Ullmann, Karl Keinath und Wilhelm Brendle: Das sind die ersten ehemaligen Sindelfinger, die sich seit Donnerstag in ein europaweites Netz der Erinnerung einfügen. In ein Netz nicht aus Garn und Maschen, sondern Steinen. Denn diese fünf Namen stehen auf den ersten Sindelfinger Stolpersteinen. Der Vater des vor drei Jahrzehnten entwickelten Gedenkkonzepts an die Opfer der NS-Diktatur, Gunter Demnig, reiste zur Verlegung der ersten fünf Sindelfinger Stolpersteine persönlich mit seinem Transporter an.

Bei nasskaltem Maiwetter versammeln sich zur Verlegung an der ersten Stolperstein-Station am Mahnmal für die Sindelfinger Familie Ullmann knapp hundert Gäste am Domo. Der melancholischen Klarinetten-Melodie von Klaus Kreczmarsky als Präludium zu dieser Stolpersteinverlegung lauscht auch Jennifer Ullmann-Jones, die mit ihrem Mann Colin eigens anlässlich dieser Stolperstein-Verlegung aus dem englischen Kent angereist ist.

Mahnmal von 2006

Mit der Verlegung der drei Ullmann-Stolpersteine am 2006 eingeweihten, von Michael Kuckenburgs Buntstift-Geschichtswerkstatt am Goldberg-Gymnasium entwickelten und finanzierten Mahnmal für die sechs Mitglieder der vom NS-Regime ermordeten Sindelfinger Ullmann-Familie am Domo, nimmt Jennifer Ullmann-Jones so Teil an dem Erinnerungsakt, der auch ihrem Großonkel und ihrer Großtante gilt.

Es sei eine große Freude für sie, heute hier dabei sein zu dürfen, sagt sie in einer kleinen, auf deutsch verlesenen Ansprache. Eine große Ehre sei es, dass über 80 Jahre nach der Ermordung ihrer Verwandten nun diese Gedenksteine verlegt würden. „Das bedeutet, dass die Taten von damals nicht vergessen werden“, so Jennifer Ullmann-Jones.

1939 Kindertransport nach England

Ihr Vater Helmut, in Sindelfingen geborener Sohn von Sigmund und Bella Ullmann, durfte 1939 mit einem Kindertransport nach England ausreisen und überlebte so den Holocaust ebenso wie seine Schwester Edith, die zu Verwandten in die USA geschickt worden war. Alle anderen Mitglieder der Sindelfinger Ullmann-Familie dagegen fanden im NS-Regime den Tod. Für Bella, Sigmund und Irene hat Gunter Demnig bereits Stolpersteine in Stuttgart verlegt, ihrem damals letzten freiwillig gewählten Wohnort.

„Ich kann vergeben, aber nicht vergessen“, zitiert Stadthistoriker Horst Zecha einen Satz von Helmut Ullmann, der nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland häufig besuchte. Ihr Vater habe die Nazis gehasst, aber Deutschland geliebt, erzählt am Rande der Veranstaltung die heute 76-jährige Jennifer Ullmann-Jones. Erinnerungsformen wie die Stolpersteine seien wichtig, weil sie klar machten, dass alles nicht nur ganz woanders und weit weg, etwa in Dachau passierte, sondern auch hier vor Ort, so Jennifer Ullmann-Jones: „Sindelfingen, ich sage danke.“

Zwei weitere Stationen

Nacheinander verlegt Gunter Demnig an zwei weiteren Stationen jeweils einen Stolperstein. In der Bahnhofstraße 31 erinnert ab jetzt ein Gedenkstein an den 1942 im KZ-Flossenbürg zu Tode gekommenen Kommunisten Karl Keinath. In der Schnödenecksiedlung findet sich vor dem Haus Uhlandstraße 25 auf einem Stolperstein nun der Name Wilhelm Brendle, Kommunist wie Keinath und wie er Kandidat für die kommunistische Partei bei den Wahlen zum Sindelfinger Gemeinderat 1931. Brendle starb im Konzentrationslager Mauthausen Ende Januar 1940.

Die Patenschaft und damit Pflegeverantwortung für die drei Ullmann-Stolpersteine haben die Stadträte Axel Finkelnburg, Thomas Jaskolka und Martin Wenger übernommen. Paten der Gedenksteine für die Kommunisten Brendle und Keinath sind Schüler der 11. Klassenstufe des Stiftsgymnasiums, die den Geschichtskurs von Siglinde Berenbold besuchen.

Geschichts-AG beabsichtigt

Die Elftklässler beteiligen sich unter anderem mit Szenen, die an Flugblattaktionen der NS-Opfer erinnern, an der Umrahmung dieser Stolpersteinverlegung. „Er war ja nicht nur Kommunist, sondern Mensch“, lautet dazu ein Vers, den Stiftsgymnasiastin Emma Franke aus einem Poetry-Slam rezitiert, das ihre erkrankte Mitschülerin Line Stähle für die Veranstaltung gedichtet hat. Am Stiftsgymnasium sei die Gründung einer Geschichts-AG beabsichtigt, auf die die Patenschaft für die Stolpersteine dann übergehen kann, wenn die Elftklässler nach dem Abi die Schule verlassen.

„Wir wollen die Erinnerungskultur verstetigen“, sagt in seiner Rede OB Dr. Bernd Vöhringer und macht darauf aufmerksam, dass für die weiteren geplanten Stolpersteine zur Erinnerung an Sindelfinger NS-Opfer noch Paten gesuchten würden. Interessierte könnten dazu Verbindung mit dem Kulturamt aufnehmen.

Die Stolpersteine, von denen Gunter Demnig mittlerweile über 116 000 europaweit in über 30 Staaten verlegt hat, nennt der OB „Erinnerungszeichen und Ausrufezeichen zugleich“. Mit den ersten fünf Stolpersteinen sei Sindelfingen nun Teil eines Netzwerks der Erinnerung und Solidarität, so Dr. Vöhringer. „Die Erinnerung darf nicht enden. Sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“, zitiert der OB abschließend den ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und fügt an: „Ich hoffe und wünsche den Steinen in diesem Sinne, dass sie immer Steine des Anstoßes sein werden.“