Sindelfingen: SZ/BZ-Chefredakteur Jürgen Haar – Ein Abschied voller Wertschätzung
Sindelfingen. Es hätte für den Abschied keinen passenderen Ort geben können als den Rollenkeller der Druckmaschine im Z-Druck von Röhm-Medien. Tausende Tonnen Papier werden hier pro Jahr mit wertvollem Journalismus gefüllt. Wie viele Artikel Jürgen Haar geschrieben hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Jetzt, nach über 44 Jahren und drei Monaten im Hause Röhm, nimmt der Chefredakteur seinen Hut.
Hier porträtiert der langjährige Weggefährte Peter Bausch Jürgen Haar
Kurz bevor Robert Kühn mit dem Saxofonder Bossa Boys den noch gemütlicheren Teil einläutet, beendet Jürgen Haar den offiziellen, ersten Akt mit den Worten: „Ihr werdet von mir hören.“ Die Verbundenheit mit dem Haus bleibt, neue Aufgaben stehen für den 65-Jährigen an. Zum Beispiel für das hochwertige Mode-Start-up „Sanoge“ von Sarah Maria Nordt. Und die Rolle als Vorsitzender der von der Sindelfinger Zeitung einst mit ins Leben gerufenen Organisation „Nachbarn in Not“ wird ihn gleich beim ersten Tag des Ruhestands am Montag um 8.30 Uhr mit einer Sitzung im Rathaus in Beschlag nehmen. Davor steht der Abschied mit Wein und Häppchen im Kollegenkreis und übers Wochenende von Mercedes-Pressesprecher Steffen Schierholz. Der Terminkalender bleibt erst einmal voll.
Die Reihen dicht bestuhlt und voll besetzt mit Wegbegleitern, führt Verlagsleiter Hans-Jörg Zürn durch einen Mittag voller Wertschätzung. Das passt. Protagonist und Moderator sind beide als Böblinger vor über vier Jahrzehnten von Werner Röhm eingestellt worden. Hans-Jörg Zürn beschreibt Jürgen Haar als „Außenminister der Redaktion“, beneidet ihn um sein „phänomenales Personen- und Namensgedächtnis“, schätzt den „immer loyalen und partnerschaftlichen Umgang“, und dass es in all den Jahren „keine ernste Ehekrise“ gegeben hat.
So richtig warm wird es Jürgen Haar, als Seniorverleger Dr. Wolfgang Röhm über den „profiliertesten Lokaljournalisten unserer Gegend“ spricht, für den die SZ/BZ „ein Lebenswerk“ sei. Der Slogan „Weil wir lieben, hier zu leben“ passe nicht nur auf das Haus, sondern beschreibe auch Jürgen Haar. Und dessen Lehre bei der Allianz habe zu einem guten Gefühl für Geld und Wirtschaft geführt: „Das trägt dazu bei, wie ein Zeitungsverlag und eine Redaktion zu führen sind.“ Als Dr. Wolfgang Röhm sein „ganz besonderes Dankeschön für die Verbundenheit zu SZ/BZ, Verlag und Familie“ ausspricht, steigen bei Jürgen Haar ordentlich die Temperaturen. „Genau deshalb habe ich einen ganz dünnen Pullover angezogen“, sagt er.
Auch der heutige Verleger Dr. Christian Röhm findet sehr persönliche Worte: Angefangen bei Großvater Werner Röhm sind es jetzt drei Generationen Röhm, drei unterschiedliche Charaktere und, wie es sich für einen Zeitungsverlag gehört, viele inhaltliche Diskussionen – „aber eines hatten und haben alle gemeinsam: Wir schätzen dich ungemein. Deine Fähigkeiten als Redakteur, dein Wertebild, deine klaren Meinungen, deine enge Verbundenheit mit dem Verlag und ganz besonders deinen konstruktiven Optimismus. Für dich ist die Zukunft ein Versprechen, keine Gefahr – und das ist durchaus etwas Besonderes.“
Apropos Zukunft: Dr. Christian Röhm schätzt die Ankündigung, die Jürgen Haar früh machte: „Ich werde bis zum letzten Tag mit vollem Einsatz dabei sein, die zukünftige Struktur jedoch möchte ich Euch überlassen. „Du hast uns deinen Rat gegeben, standest jederzeit für vertrauensvolles Sparring zur Verfügung. Das habe ich oft und gerne in Anspruch genommen. Gleichzeitig hast Du mir stets vermittelt: Ich finde gut, was ihr da macht. Macht weiter so. Und genau so haben wir es gemacht“, so Christian Röhm.
Mit Tim Schweiker kommt die Nachfolge für die Redaktionsleitung aus dem eigenen Haus. Er werde gemeinsam mit seinem neuen Führungsteam Jürgen Wegner und Volker Teufel „viele wertvolle Dinge der letzten Jahre fortsetzen: die intensive lokale Arbeit, die uns viele Journalistenpreise gebracht hat, die Nähe an den Menschen der Region und ihren Themen. Und den Digital-First-Ansatz, den wir seit einigen Jahren sehr erfolgreich umsetzen.“
Einige Anekdoten verrät Hans-Jörg Zürn danach. Zwei müssen sein. Die eine ist heute noch Gesprächsstoff und läuft auf RTLimmer noch in schöner Regelmäßigkeit. 2013 führte Jürgen Haar auf der Literatur-Tribüne der Buchhandlung Röhm durch einen Abend mit Waldemar Hartmann. In der Nachspielzeit der Lesung wurde dieser zum Telefonjoker bei „Wer wird Millionär“. Das Gedächtnis spielte einen Streich, Deutschlands WM-Sieg 1974 in München war ein schwarzes Loch und der Fußball-Experte wurde zum Fernseh-Tor-des Jahres.
Die zweite Anekdote erzählt davon, wie die Chefredakteure Zürn und Haar partout kein Interview mit Gerhard Schröder bekamen. Dann rief Jürgen Haar dem Kanzler beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Sindelfingen zu: „Mit welchem Auto sind Sie da?“ Der Kanzler antwortete: „Wer will das wissen?“ Ein kurzes Gespräch kam zustande und der Sicherheitsdienst in Wallung. Hans-Jörg Zürn nimmt es exemplarisch: „Ob Bundeskanzler oder Stadtrat, Jürgen Haar findet immer eine Möglichkeit, mit Menschen ins Gespräch zu kommen.“
Und natürlich gibt es Geschenke. 12 Flaschen hochwertigen Wein, die es so nicht zu kaufen gibt. Die Etikettenzieren Haar'sche Porträts aus dessen Laufbahn. Dazu sammelten die Kollegen für eine enorme Anzahl an „Törtchen des Tages“, die sich Jürgen Haar so gerne beim Sindelfinger Chocolatier Kevin Kugel gönnt. Die Sonderseiteüber ihn mit einem Porträt aus den Feder des langjährigen Redaktionskollegen Peter Bausch, die sich ohne sein Wissen in die Freitagausgabe der SZ/BZ mogelte, gibt es gerahmt.
Weil man zum Abschied nur Gutes hört, übernimmt Jürgen Haar noch einmal selbst die Regie mit geschliffenem Wort: „Herr, verzeih Ihnen, dass sie so gut über mich reden. Und Herr verzeih mir, dass ich es so gerne höre.“ Vermeintlich dunkle Seiten kehrt er dann selbst hervor. Zum Beispiel den Leserbrief einer Maichingerin, die formlos-forsch schreibt: „Herr Haar, was haben Sie nur gegen Kinder? Was ist in ihrem Leben schief gelaufen?“ Es gibt weitere Beispiele, auch anonyme Fanpost für die unterste Schublade, wobei auch typisch für Jürgen Haar ist, dass er seinen Kritikern gerne begegnet wäre. Und dann gibt es sowohl rückblickend, als auch ausblickend ein dickes Lob für die Redaktion: „Das ist eine absolut coole Truppe. Die Zeit war gut, das hat Spaß gemacht.“
Das gilt definitiv auch andersrum.