Wer liest, ist immer woanders.
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Leïla Slimani: Das Land der Anderen. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand Literaturverlag. 386 Seiten, 22 Euro. Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani hat in ihrem neuen Roman die Geschichte ihrer Großeltern verarbeitet, einem marokkanischen Offizier, im Dienst der französischen Armee und einer Elsässerin. Auf dem kargen Grund eines Landguts nahe der marokkanischen Stadt Meknes bauen sie sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs eine Existenz auf. Doch statt der Früchte ihrer Träume, ernten sie Entzweiung, Zweifel und Ernüchterung. Der Aufbruch in die Freiheit endet in neuen Zwängen. Die junge Familie gerät zwischen die Fronten der französischen Kolonialmacht und den nationalistischen Kräften, die für die Unabhängigkeit kämpfen. Slimani pfropft Kolonial- und Sozialhistorie, die gegensätzlichen Triebe von Feminismus und Patriarchat, Liebe und Gewalt, Islam und Christentum auf den Stamm der Familiengeschichte. Ihr Roman erzählt von Migration einmal in der anderen Richtung, von Norden nach Süden. „Das Land der Anderen“ ist der erste Band einer Trilogie – und ein Leserereignis, das seinesgleichen sucht.
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Peter Buwalda: Otmars Söhne. Roman. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Rowohlt Verlag. 624 Seiten, 24 Euro. Ludwig soll ein Junge heißen, dessen Erzeuger sich aus dem Staub gemacht hat, und der nun im musikalischen Haus seines Stiefvaters Otmar unter Wunderkindern aufwächst, einem neurotisch-hochbegabten Halbbruder, der vor einer großen Pianistenkarriere steht, und dessen Schwester, einer Geigerin. Den bewundernswerten Begabungen seiner Halbgeschwister hat Ludwig vor allem ein Talent, sich unwohl zu fühlen, entgegenzusetzen. Die aus Thailand stammende Isabelle wiederum ist die Adoptivtochter einer angesehenen niederländischen Familie. Eine pikante Angelegenheit im Umfeld der Familie entzweit sie mit ihrem reaktionären Großvater, einem Kinderbuchautor, Politiker und leidenschaftlichen de-Sade-Leser. Und dann ist da noch ein Shell-Manger der im Leben von beiden eine herausragende Rolle spielt. Gebrochene Familienbande, gesellschaftliche und sexuelle Machtverhältnisse sowie einen verlorenen Sonatensatz Beethovens verknüpft der niederländische Autor Peter Buwalda zu einem vielstimmigen Roman.
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Shida Bazyar: Drei Kameradinnen. Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, 22 Euro. Die Freundinnen der Erzählerin kamen aus Ländern nach Deutschland, in denen Bürgerkriege wüteten oder politische Verhältnisse, die schwangere Mütter dazu zwangen, ihre Kinder im Gefängnis zu gebären. Mit ihnen ist sie aufgewachsen, in Ghettos, in die „seit Generationen der soziale Abschaum einquartiert wird“. Es ist nicht einfach, einen Namen zu haben, den viele nicht richtig aussprechen können oder wollen. Trotz eines mit Bestnote absolvierten Soziologiestudiums müsste die Erzählerin wohl gerade einen Berg von 83 Absagen und ebenso vieler Hartz-IV-Bescheide sortieren, wenn sie nicht aufschreiben müsste, wie es zu den schrecklichen Ereignissen kam, von denen „Drei Kameradinnen“ erzählt. Shida Bazyars Roman ist kein Sprachrohr, sondern eine raffinierte literarische Versuchsanordnung, zu der die kalkulierte Herausforderung der Leser ebenso gehört wie die Zurückeroberung der Autorschaft jener, die sonst erdulden müssen, beschrieben zu werden.
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Steve Sem-Sandberg: „W.“. Roman. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart. 406 Seiten, 25 Euro. Zweihundert Jahre liegt der Fall nun zurück. Am 2. Juni 1821 erstach der Hilfsarbeiter und ehemalige Soldat Johann Christian Woyzeck seine Geliebte, die Chirurgenwitwe Johanna Christiane Woost. Die Frage, wer ihm dabei die Hand geführt hat, Eifersucht, innere Stimmen oder eine soziale Misere, die die Menschen zerstört und zu Tieren macht, beschäftigt seitdem die Nachwelt. Spätestens seit Georg Büchner 1836 aus der Affäre ein den Horizont der Zeit visionär überschreitendes Sozialdrama geformt hat. Nun blickt der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg in den schwindelnden Abgrund der Figur. Aus historischen Dokumenten, Akten, Quellen, Büchner-Zitaten gibt er dem stets Übervorteilten, der nie für sich selbst sprechen durfte, eine unheimlich Stimme.
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