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Auf dem Weg zum Spiel gegen den HSV

Auf geht's, VfB Stuttgart, jetzt bloß nicht den Zug verpassen

Das Unternehmen Klassenerhalt nimmt an den S-Bahn-Stationen im Kreis Böblingen Fahrt auf.
Von Jürgen Wegner

Fußball. Der erste schlurft um 11.53 Uhr die Böblinger Straße entlang, um den Goldberg hochzulaufen und die S-Bahn zu erreichen. Er ist wirklich früh dran, aber warum denn nicht? Es ist Traumwetter, und wer Zeit hat, kann den Tag doch in Stuttgart verbringen, bevor der Abend dämmert und das Flutlicht die Fußballnacht erleuchtet.

Mit seinem weißen Trikot und dem roten Brustring könnte er daran erinnern, dass heute ein besonderer Tag ist. Muss er aber nicht, das haben andere längst getan. Holzgerlingens Bürgermeister zum Beispiel. Ioannis Delakos hebt auf den sozialen Kanälen schon morgens um 10 Uhr beide Daumen und schreibt: „Heute Abend geht's ums Ganze! Deshalb sind wir alle VfB-Fans.“ Dass er das schwarze Auswärtstrikot trägt – geschenkt. Kämpfen und siegen und erstklassig bleiben, darum geht es.

Auf der Gass' und auch bei uns im Büro gibt es nur ein Pausengespräch. Wenn sogar der Schalke-Fan Dirk Hamann sagt, „heute sind wir alle VfB“, dann spricht das Bände. Und Ralf Berti kann sich nicht entscheiden, schwankt bei der Prognose zwischen einem „klaren 4:1“ und der Fußballkatastrophe, wodurch „wenigstens die Stadionwurst in der 2. Liga billiger wird“.

Bessere Tage

Es liegt was in der Luft, es erinnert an außergewöhnliche Stunden, an die besonderen Spiele an strahlend schönen Tagen, sogar an Meisterschaften, weshalb plötzlich manche über 1984, 1992 und 2007 sprechen. Tage wie diese, die im Fußballhimmel enden, beginnen gerne an der S-Bahn. So wie letztes Jahr, als Endo zu Legendo wurde. Platzsturm am Neckar, es gab kein Halten mehr, weil der VfB die Klasse gehalten hat durch ein 2:1 gegen den Effzeh vom Rhein.

Party wegen Klassenerhalt, wo sind wir bloß hingekommen? Zeit, das Rad zurückzudrehen, es reichen 16 Jahre. Das prägendste Bild von der S-Bahn am Goldberg im SZ/BZ-Archiv stammt vom 19. Mai 2007. In Fünferreihen färben die Menschen den Bahnsteig mit ihren weißen und roten Trikots ein. Bestes Wetter, beste Laune, obwohl die allermeisten nicht einmal eine Karte fürs Stadion haben.

Immer wieder fährt ein Zug, immer wieder ist er voll. Selbst ein Platz auf den Schlossplatztreppen zu ergattern ist ziemlich schwierig. Einen in der TV-Bar so gut wie ausgeschlossen. Tausende fahren direkt wieder nach Hause, um das Spiel gegen Energie Cottbus wenigstens an Sindelfinger oder Böblinger Kneipenfernsehern anzuschauen. Viele davon aber nur, um nach Hitzlspergers Hammer und Khediras Köpfchen sofort wieder ans Gleis zu kommen und auf den Zug aufzuspringen.

250.000 sollen es bei der großen Party in Stuttgart gewesen sein. Dirk Hamann verzichtete dankend, sein königsblaues Herz trug Trauer, weil ausgerechnet der VfB seine Schalker auf der Ziegeraden abfing und Stuttgart die Schale holte. Wieder einmal Meister, zum fünften Mal. Lange ist es her.

Heute ist es ähnlich und doch ganz anders. Teil eins der beiden Entscheidungstage, es brennt, es kribbelt, der Bahnsteig trägt Trikot. Das Stoßgebet: nur nicht wie 2019. Unentschieden damals daheim gegen die eiserne Union aus Berlin. Zu wenig für das Rückspiel, zu wenig für die Bundesliga. Ein Bier beruhigt. Manche trinken zwei.

Derweil macht um 17.45 Uhr das Gerücht die Runde, dass Fabian Bredlow nicht spielt. Es wird heiß diskutiert, das kann und darf doch nicht wahr sein. Auch Nina und Moritz Koch aus Holzgerlingen bekommen den wahrscheinlichen Wechsel im VfB-Kasten mit. Ist das schlimm, spielt es eine Rolle? Mutter und Sohn machen sich mal wieder gemeinsam auf in Richtung Untertürkheimer Kurve, wo sie so oft und gern zuhause sind. Normalerweise ist auch Tochter Hannah dabei. Ausgerechnet heute nicht. „Ich bin sehr nervös“, sagt Moritz Koch.

Was ist ein gutes Ergebnis?

Beide hoffen auf ein gutes Ergebnis. Aber was bedeutet das bei diesem Club, der sich immer wieder als Wundertüte entpuppt? „Ein Sieg mit zwei Toren Unterschied wäre okay“, sind sie sich einig. Ein paar Meter weiter wirken Sascha und Joschka Diemer ziemlich entspannt. Die beiden Brüder aus Sindelfingen freuen sich auf das Spiel. Wobei Joschka nicht unzufrieden wäre, wenn es nicht mit einer Niederlage ins Rückspiel am Montag nach Hamburg geht. Sascha ist dagegen siegessicher: „Wir schlagen den HSV, ganz klar.“

18.03 Uhr, die S-Bahn fährt ab, während sich der Bahnsteig für die nächste schon deutlich schneller füllt. Die Waggons schlucken reihenweise VfB-Fans, die aus Sindelfingen und dem Umland hergekommen sind für die Mission Klassenerhalt. Wer den nächsten verpasst, ist fast schon ein Nachzügler. Vorstartspannung, und keiner weiß, wie es ausgeht.