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SZ/BZ-Serie (Teil 8): Die beiden ersten Tanzgaststätten in Sindelfingen öffnen 1966 und 1969 / Baobab und Wanted bei der ersten Weihnachtssession

Die 70er im Kreis Böblingen: Stall fürs Wilde, Scheune für Discofox

Von Peter Bausch

Kreis Böblingen - An der Musik scheiden sich die Geister. In den 70er-Jahren geht die Saat auf, die Rock’n Roller oder Bluesrocker gesät haben: Zum Mekka für bis dato unerhörte Töne wird in Sindelfingen die Diskothek Pferdestall, die der Böblinger Peter Tippelt mit dem Planie-Grill Ende 1965 und Anfang 1966 in den Gewerbekataster der Stadt eintragen lässt. Drei Jahre später zieht Gerhard Frank mit der Spitalscheune nach. Immerhin, Songs wie “Child in Time” von Deep Purple werden in beiden Diskotheken gespielt.

Deep Purple mit Sänger Ian Gillan, Gitarrist Richie Blackmore oder Organist Jon Lord hat im Landkreis Geschichte geschrieben. Der Tübinger Ulrich Hägele hat zur Ausstellung “Arthur, rück die Schlüssel raus” 2017 und 2018 über die 70er-Jahre im Stadtmuseum Sindelfingen den Bericht des Südfunk-Fernsehens über das Konzert der Band 1972 in der Sporthalle Böblingen präsentiert. “Unglaublich, welche Arroganz der Kommentator an den Tag legt”, empört sich der promovierte Medienwissenschaftler: “Das müssen alte Nazis gewesen sein, die mit der neuen Pop-Kultur überhaupt nichts anfangen konnten.”

Stücke werden immer länger

Wenn der zwölf Minuten lange Klassiker “Child in Time” in der Spitalscheune zu den progressiven Stücken gehörte und dort ansonsten eher Mainstream für den Discofox angesagt ist, zelebriert der Pferdestall die ganz neuen Töne. Dabei ist “In-A-Gadda-Da-Vida” von Iron Butterfly noch relativ harmlos und läutet die Zeit der ewig langen Schlagzeug-Soli ein, für die Ginger Baker auf der ersten und einzigen Platte von Blind Faith mit Steve Winwood, Eric Clapton und Rick Grech auch gut 15 Minuten bekommt. Zeitlich exzessive Cover-Versionen lassen Vanilla Fudge mit Schlagzeuger Carmine Appice oder Organist Mark Stein mit dem Titel “Renaissance” in Vinyl-Rillen pressen und Pink Floyd mit Roger Waters, David Gilmour, Nick Mason und Richard Wright reserviert auf der 1971 erschienenen Platte “Meddle” gleich die ganze B-Seite für die Suite “Echoes”.

Die Musik ist in den 70er-Jahren das Vehikel, mit dem die jungen Leute ein eigenes Leben proben, das nicht mehr viel mit den Erwachsenen zu tun hat, die weiter Udo Jürgens, Roy Black oder gar Heintje hören. Im Pferdestall ist experimentelle Musik aus Deutschland von Can, Tangerine Dream oder Amon Düül zu hören. Weil in Stuttgart nach Skandalkonzerten in der Liederhalle nur noch der Killesberg für die Konzerte wie von Pink Floyd in Frage kommt, spielt die neue Musik in Sindelfingen und Böblingen. Emerson, Lake and Palmer spielen in der Sporthalle mit umgestürzten Orgeln Modest Mussorgskis “Bilder einer Ausstellung”, im Eichholzer Täle tritt 1971 Wolfgang Dauners “Et Cetera” auf, Kraftwerk spielt erst einmal auf der Wiese Fußball mit dem Team des Aktionskomitees Jugendhaus, baut dann die Ausstellungshalle für die “Autobahn” um und Wolfgang W. Auer rezensiert unter dem Titel “In einem Spiegelsaal aus Schwingungen”  in der Sindelfinger Zeitung 1973 den Auftritt des Mahavisnu Orchestras mit Gitarrist John McLaughlin.

Für die einheimischen Coverbands wie die Joe-Jets mit Jörg Stahl, Siegfried Wahl, Peter Burger oder Horst Dittmann und Les Masques mit Joachim Kupke, Erwin Meier, Hans-Joachim Morhardt, Dieter Haag und später Ladislaus Weiss bedeutete der Höhenflug der Diskotheken, zu denen in Sindelfingen außer Pferdestall und Spitalscheune auch die schickeren Varianten wie Le Métèque oder El Chico gehören, das Ende ihrer Tournee-Karrieren. Aber auch die Tenne oder das Seestudio in Böblingen organisieren kaum noch Live-Konzerte.

Bands schreiben eigene Stücke

Also fangen die Formationen aus dem Kreis an, eigene Stücke zu komponieren und suchen sich neue Nischen für Auftritte. Pioniere in der Jazz-Rock-Szene sind die Leute von Baobab. Anfang der 70er-Jahre gründen der Saxofonist Karl-Heinz Huschka, der Bassist Michael Radtke und Keyboarder Joachim Pflieger die Band, die mit Schlagzeuger Dieter Kauffmann, Percussionist Helmut Kristmann, Trompeter Uwe Zaiser und Sängerin Beatrice Mathé 1978 von der IG Jazz Stuttgart in die Box “Live im Sudhaus” mit drei Langspielplattenm aufgenommen wird.

In Böblingen startet Chickenfarm mit Philipp Konowski und Stephen Krämer als Schülerband, bevor die heute noch aktiven Martin Johnson und Andy Maile dazu stoßen. Joachim Kupke hebt 1977 mit Herbert Renz, Josef Jesch, Jürgen Uppenthal und Reiner Pfleiderer die Rockgruppe Wanted aus der Taufe, die mit Leuten wie Werner Schumacher, Bernd Steiner oder Bernd Ankes im selben Jahr ihr erstes Open-Air-Konzert beim Altstadt-Flohmarkt feiern.

Werner Schumacher ist Discjockey im Pferdestall, Joachim Kupke Stammgast sowohl im Stall als auch in der Scheune. Zusammen mit ihren Kollegen von Baobab, aber auch mit Horst Stachelhaus, der mit dem Sindelfinger Schlagzeuger Gerhard Schaber in Bands Message und Birth Control bundesweit Karriere macht, organisieren die Musiker 1979 die erste Weihnachtssession im Foyer der Stadtbibliothek, die nach einer Odyssee über die Pauluskirche, die längst abgerissene Concordia-Fabrik oder die Klosterseehalle durch die ganze Stadt 2006 schließlich in der Stadthalle landet.

Das Treffen am zweiten Feiertag lockt 2019 gut tausend Leute in die gute Stube der Stadt und öffnet sich für junge Formationen wie Skin of Clazz, die die Tradition ihrer Ahnen weiterführen. Weil die Session 2020 wegen der Corona-Pandemie abgesagt wird, ist ein Wiedersehen mit alten Bekannten über Weihnachten sehr schwierig. Die Diskotheken wie Pferdestall, Spitalscheune, Métèque, El Chico, Tenne oder Seestudio und selbst die Filmklause in Schönaich gibt es nämlich schon vor Corona nicht mehr.


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