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Sindelfingen: Prof. Dr. Thomas Fischer im Gespräch mit SZ/BZ-Chefredakteur Jürgen Haar bei Röhms Literaturtribüne auf dem Marktplatz

„Die Grenzen sind entscheidend“

Großer Andrang beim vierten Literaturtribüne-Abend der Buchhandlung Röhm. Die Neugier gilt Prof. Dr. Thomas Fischer, ehemals Vorsitzernder Richter am Bundesgerichtshof und deutschlandweit bekannter Kolumnist. Im Gespräch mit SZ/BZ Chefredakteur Jürgen Haar erklärt er mal hochabstrakt, mal köstlich konkret, wovon sein Buch „Über das Strafen“ handelt.
Von Bernd Heiden
Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft – darüber sprach SZ/BZ-Chefredakteur Jürgen Haar in der Buchhandlung mit Prof. Dr. Thomas Fischer. Der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof hat ein Buch „Über das Strafen“ geschrieben  (Bild: Heiden).

Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft – darüber sprach SZ/BZ-Chefredakteur Jürgen Haar in der Buchhandlung mit Prof. Dr. Thomas Fischer. Der ehemalige Richter am Bundesgerichtshof hat ein Buch „Über das Strafen“ geschrieben (Bild: Heiden).

Kein Lehrbuch für Anfänger oder ‘Strafrecht leicht gemacht’ sei sein Werk. Auch keine Fallschilderung à la ‘Meine schönsten Morde’, sagt Thomas Fischer. Dabei besteht kaum Zweifel: Er hätte mühelos das eine wie das andere schreiben können. Unter Juristen firmiert sein jährlich erscheinender Kommentar zum Strafgesetzbuch schlicht als „Der Fischer“. Und mit langjähriger Praxis als Strafrichter bis zum Vorsitzenden der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Leipzig, bevor er in sächsische Staatsministerium der Justiz und 2000 an den Bundesgerichtshof wechselte, hätte er genügend Storys auf Lager, die Spannungs- und Blutflussbedürfnis eines breiten Publikums befriedigen würden.
Nein, in seinem Buch unternehme er den Versuch, grundlegende Begriffe des Strafrechts von Schuld über Wahrheit bis zum freien Willen zu erklären und auch Einblicke zu vermitteln, wie das Strafrecht funktioniere, sagt Thomas Fischer. Der Untertitel des Buches „Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft“ deutet an, worauf Buchhändler Ulrich Röhm zur Begrüßung hinweist. Das vordergründig juristische Thema reiche bis in philosophische und soziologische Kategorien.
Mit anderen Worten: Es geht auch um sehr fundemantela Fragen wie Verantwortung, Schuld, Gerechtigkeit. Fragen, die auch Jürgen Haar, selbst sechs Jahre Schöffe am Amtsgericht, an den Strafrechtler richtet. Etwa die: Wie macht man sich als Richter von Scheinwahrheiten frei?
Die Frage ist die einzige des Abends, die den so redegewandten wie scharfsinnigen Juristen bei der Beantwortung länger zögern lässt. „Wahrheit ist nicht etwas, was wir einfach so vorfinden“, beginnt er seine Erklärung, die im Kern besagt: Wahrheitsfindung im Strafrecht funktioniert nur durch Beschränkung. „Wir müssen erstmal überlegen: Was ist uns wichtig?“. Richterliche Wahrheitsfindung sei so eine hochgradig selektive Tätigkeit, die sich nicht von selbst verstehe. Leitende Gesichtspunkte seien erstens die Klärung der Frage nach dem, was wichtig sei und zweitens die Frage, welches Maß an Wahrheit ausreiche. Am Ende gehe es nicht darum, einen stellvertretenden Rachefeldzug im Sinne der Opfer zu führen, sondern für die Allgemeinheit den Zustand des Rechtsfriedens herzustellen.
Spontane Rachegefühle, die liegen uns als Menschen zwar nahe, ergänzt Fischer, aber darum gehe es in unserem Strafrecht nicht. Strafe habe in unserem System verschiedene Funktionen: Sie symbolisiert Vergeltung, dient teils der Abschreckung und ist Normbestätigung. Letzteres meldet sich in Urteils-Kommentaren folgender Art: „Siehste, hab’ ich doch gesagt, Tankstellen soll man nicht überfallen.“
Den soziologischen Einwand, Bestrafen führe zu gar nichts, differenziert er. Bei stark affektiven Taten sei die Strafhöhe wohl eher unerheblich. Auch der rumänische Wohnungseinbrecher kalkuliere kaum „für 8 Jahre mach ich’s, für 9 Jahre nicht“. Andererseits gibt Fischer zur allgemeinen Erheiterung zu bedenken: „Wenn man sagen würde, für Totschlag gelte die Höchststrafe ein Jahr, dann würde man wahrescheinlich auch hier im Saal Interessenten finden.“ Das sei eben die Frage der Verhältnismäßigkeit.
Fischer erklärt auch den verbreiteten Irrtum, in der Justiz gehe es in erster Linie um Sicherheit. Das sei das Kerngebiet der Polizei mit ihrer Hauptaufgabe der Gefahrenabwehr. Etwas anderes sei die Justiz mit der Aufgabe der Strafverfolgung, an der unter staatsanwaltlicher Führung auch Ermittlungsbeamte der Polizei teilhaben. Der verbreitete Glaube, bei der Justiz stehe der Sicherheitsaspekt an oberster Stelle, rühre daher, dass in vielen TV-Krimis die Gerichte als Verlängerung der polizeilichen Tätigkeit firmierten. „In der Bevölkerung wird gar kein Unterschied mehr gemacht zwischen Justiz und Polizei.“
Er nutzt den Punkt, um eine Warnung auszusprechen angesichsts ständigen Forderungen nach Strafrechtsverschärfungen: „Sicherheit ist ein totalitärer Begriff.“ Denn man könne theoretisch immer was obendrauf packen, so den Schläger, der 10 Jahre abgesessen hat, nochmals für 10 weitere Jahre einsperren. Aber wie das Beispiel USA mit seiner hohen Gefangenenrate zeige, mache man allein dadurch ein Land kaum sicherer.
Überhaupt bekennt er sich überraschend zum Fan der Gesetzeslücke, sagt sogar dezidiert: „Lücken sind das Entscheidende.“ Denn rein auf einer Kausalitätsebene betrachtet, sei jeder für alles verantwortlich, zum Beispiel für das Schmelzen der Polkappen. Wer angesichts dessen die Welt komplett mit dem Strafrecht überziehen wolle, der würde sich konfrontiert sehen mit einem Strafrecht mit einem Paragraf 1, der laute: Jedes menschliche Verhalten ist mit einer Freiheitsstrafe von 1 bis 15 Jahren zu bestrafen. Paragraf 2: Ausnahmegenehmigungen erteilt die zuständige Polizeidienststelle. Um solche Absurdidäten zu vermeiden sei deshalb im Strafrecht eine grundlegende Frage, was überhaupt jemand zugerechnet werden soll. Thomas Fischer: „Die Grenzen sind entscheidend im Recht.“