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Buchtipp: "Waggon vierter Klasse" von Robert Domes

Eine Stimme für die vergessenen Opfer

"Waggon vierter Klasse": Der Autor Robert Domes begibt sich in seinem neuen Roman auf eine ebenso spannende wie berührende Spurensuche. Ein Flüchtlingsmädchen der Nachkriegszeit kämpft gegen das Schweigen.
Von Tim Schweiker

Gab es zur Zeit des Nationalsozialismus Menschen, die es verdienten in Konzentrationslagern zu leiden und zu sterben? Diese Frage beantwortete der Bundestag im Februar 2020 endlich klar mit "Nein!", als er beschloss, die von den Nazis als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" Verfolgten offiziell als Opfergruppe anzuerkennen.

Robert Domes (Nebel im August) gibt einem dieser Opfer in seinem auf wahren Begebenheiten beruhenden Roman "Waggon vierter Klasse" eine Stimme. Sensibel und erschütternd erzählt er von Alois Roth, der aufgrund seines Lebenswandels von den Nazis als "Ballastexistenz" stigmatisiert wurde und schließlich im Konzentrationslager Mauthausen starb.

Dabei verwebt Domes die historische Geschichte von Alois mit der fiktiven des jungen Flüchtlingsmädchens Martha aus Ostpreußen, das nach Kriegsende versucht, herauszufinden, was mit dem Vorbesitzer des Waggons, in dem sie mit ihrer Familie lebt, geschehen ist. Domes gelingt damit das Kunststück, nicht nur das Schicksal eines als »asozial« Verfolgten zu schildern, sondern auch das Erleben Geflüchteter spürbar zu machen.

Ein wichtiger Beitrag zum Auftrag der Bundesregierung, diese Opfergruppen stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken und ihnen einen angemessenen Platz in der gesellschaftlichen Erinnerungskultur zu verschaffen.

Die Geschichte

Sommer 1948: Die 16-jährige Martha ist ein Flüchtlingsmädchen aus Ostpreußen. Sie lebt mit ihrem Vater in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon am Rande eines bayerischen Dorfes. Sie fühlt sich von den Einheimischen ausgegrenzt. Und sie hat das Gefühl, dass ein Geist in dem Waggon umgeht.

Um den Waggon ranken sich Gerüchte, vor allem um seinen früheren Bewohner Alois Roth. Der Mann ist in der Nazizeit spurlos verschwunden. Als Martha eine versteckte Kiste mit Habseligkeiten dieses Mannes im Waggon findet, wird sie neugierig und beginnt nachzufragen. Was war Alois Roth für ein Mensch? Warum lebte er in dem einsamen Waggon? Aber im Ort möchte niemand darüber sprechen. Es gibt Dinge, die sollte man besser ruhen lassen, heißt es nur. Doch Martha lässt nicht locker und bringt nach und nach die Geschichte von Alois Roth ans Licht.

Er war ein Gastwirtssohn aus dem Dorf, ein pfiffiger Kerl, der niemand etwas zuleide tat. Er arbeitete wenig, trank gerne und geriet auf die schiefe Bahn, landete immer wieder wegen Kleindelikten im Gefängnis. Dennoch war er im Dorf wohlgelitten. Damit machten die Nazis Schluss. Für sie war er ein »Volksschädling«. Sie warteten nur auf eine Gelegenheit, Alois endgültig loszuwerden.

Während ihrer Nachforschungen wird Martha auch mit den eigenen Erfahrungen von Krieg und Vertreibung konfrontiert. Sie muss sich ihren Alpträumen und Ängsten stellen. Und während sie in der Wunde des Dorfes bohrt, taucht plötzlich das Gerücht auf, ihr eigener Vater sei bei der SS gewesen.

Der Hintergrund

Der Roman beruht auf wahren Geschichten und gründlichen Recherchen. Er handelt von Kriegstrauma und Verdrängen der Gräuel, von der Frage nach Schuld und der Suche nach Wahrheit, vor allem aber von der Unfähigkeit zu sprechen und zu trauern. Er legt das Brennglas auf einen zentralen Teil der deutschen Geschichte: Auf die »Niemandszeit« zwischen Diktatur und Demokratie. Symbol dafür ist ein alter Eisenbahnwaggon. Hier treffen die Lebenden auf die Toten.

Das Schicksal von Alois Roth zeigt, wie sich die Gesellschaft in der Nazizeit radikalisiert, wie Menschen, die als "asozial" gelten, verstoßen und schließlich dem Tod ausgeliefert werden. Auf der anderen Seite wird aus der Sicht der jungen Martha erzählt, wie schwierig es ist, als Flüchtling in einer neuen Heimat Fuß zu fassen – und wie ein Neubeginn am Ende doch gelingen kann. Diese Geschichte ist exemplarisch: Ausgrenzung und Verfolgung während des Dritten Reichs gab es an jedem Ort im Land, ebenso die mühsame Integration der Vertriebenen und die kollektive Verdrängung der NS-Verbrechen nach dem Krieg.

Die Geschichte hat nicht nur historische Bedeutung. Sie stellt zugleich höchst aktuelle Fragen: Wohin kann die Radikalisierung der Gesellschaft führen? Wie behandeln wir heute die Andersartigen und Fremden? Wie kann das Ankommen von Flüchtlingen und deren schwierige Integration gelingen? Nicht zuletzt: Wie gehen wir mit der Wahrheit um, was blenden wir aus, was glauben wir?

Prädikat: unbedingt lesenswert.

Robert Domes: Waggon vierter Klasse. Eine Spurensuche in der Nachkriegszeit. Verlag cbt. ISBN 978-3-570-31352-7

Hinweis: Zum Buch ist umfangreiches Unterrichtsmaterial erschienen: https://www.penguinrandomhouse.de/content/download/speziell/cbj/cbt_WaggonvierterKlasse_Unterrichtsmaterial.pdf

Zum Autor: Robert Domes, geboren 1961 im bayerischen Ichenhausen, studierte Politik und Kommunikationswissenschaften in München. Er arbeitete jahrelang als Redakteur bei der Allgäuer Zeitung, zuletzt als Leiter der Lokalredaktion in Kaufbeuren, bevor er sich 2002 als Journalist und Autor selbstständig machte. »Nebel im August«, sein erstes Jugendbuch über ein „Euthanasie“-Opfer im Dritten Reich, wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Inzwischen gibt es davon eine hochkarätige, vielfach ausgezeichnete Verfilmung von Kai Wessel mit Ivo Pietzcker in der Hauptrolle.