„Gewinnen durch Verhandeln“
Bis es allerdings an diesem Abend so weit ist, dauert es. Nicht dass die ehemalige und langjährige Bundestagspräsidentin unpünktlich wäre. Nein, sie ist rechtzeitig aus Berlin in der schwäbischen Provinz eingetroffen.
Als das noch mit Sekt und Brezeln beschäftigte Publikum in der gut besuchten Festhalle merkt, dass die 81-Jährige nun im Saal ist, brandet Applaus auf. Eiligst werden unzählige Fotoapparate auf sie gerichtet, um ja nicht die Gelegenheit zu verpassen, ein Bild von ihr zu bekommen.
Aber hier ist keine Eile nötig. Süssmuth geht die Tischreihen entlang, schüttelt unzählige Hände und hält kurze Schwätzchen, als ob sie alle persönlich kennen würde und nun begrüßen wollte, setzt sich kurz hin, um ein dargereichtes Buch mit einer Widmung zu versehen. Der Bundestagsabgeordnete Marc Biadacz, der maßgeblich diese Visite eingefädelt hat, stellt Rita Süssmuth nicht nur seine Frau, sondern auch seine Mutter vor. Man könnte meinen, mit Rita Süssmuth, auch kurz Familienministerin im Kabinett Kohl Mitte der 1980er Jahre, ist zwar nicht die Mutti, aber zumindest die Großmutti gekommen.
Nach 20 Minuten in der Nähe ihres avisierten Sitzplatzes an der Bühne angekommen, gibt’s dann noch ein gemeinsames Foto mit Biadacz, Ehningens Bürgermeister Claus Unger, Landtagsvizepräsidentin Sabine Kurtz, dem Landtagsabgeordneten Paul Nemeth, dem Kreisvorsitzenden Michael Moroff und dem CDU-Gemeindeverbandsvorsitzenden Rafael Piofczyk, bevor Rita Süssmuth so langsam sich ihrer für diese Feier eigentlich angedachten Rolle nähert: Festrednerin.
Drängende Gesellschaftsfragen
Auf dem Podium freilich arbeitet sie statt mit der Dosierspritze mit der Gießkanne. Sie äußert sich zu zahlreichen drängenden Zeit- und Gesellschaftsfragen wie Digitalisierung, Zukunft Europas, Einwanderung und Migration bis Frauenbeteiligung und nur punktuell zur deutschen Wiedervereinigung, die an diesem Tag gefeiert wird. So macht sie deutlich, dass aus ihrer Sicht der verstorbene Kanzler der Wiedervereinigung an diesem Tag zu wenig im Fokus steht. „Ich wünschte, Helmut Kohl wäre stärker genannt worden“, sagt sie. „Ob wir die deutsche Einheit ohne Helmut Kohl hätten, dahinter setze ich drei Fragezeichen.“
Auch geht sie auf die verbreitete Kritik ein, die Einheit sei zu schnell gekommen. Sie erinnert daran, dass auf den Staatspräsidenten der Sowjetunion Michail Gorbatschow wenig später ein Boris Jelzin folgte, wohl um anzudeuten, wie wichtig anderswo einzelne politische Persönlichkeiten waren, die überhaupt erst die Wiedervereinigung denkbar machten. „Heute würden wir es nicht mehr erreichen“, ist sie sich zumindest sicher, dass in der gegenwärtigen Lage die Herstellung der deutschen Einheit illusorisch wäre.
Die Erinnerung an die damals friedlich verlaufene Veränderung nutzt sie zu einem Plädoyer für die Diplomatie. „Unser Ziel kann nicht primär sein, wie stark sind wir militärisch, sondern was leisten wir in Herzen und Köpfen, um Menschen zu gewinnen“, sagt Süssmuth: „Wir gewinnen durch Verhandlung.“
Ganz wichtig für sie ist aber, daran zu erinnern, dass die deutsche Wiedervereinigung kein rein deutsches Produkt war. „Wir haben es nicht allein erreicht“, sagt sie und holt recht weit in der Geschichte aus, um etwa mit Churchill oder de Gaulle an Persönlichkeiten zu erinnern, die immens wichtig waren dafür, dass ein friedlich-freiheitliches Europa überhaupt erst entstehen konnte.
Dabei wünscht sie sich das klare Setzen von Demarkationslinien, wohl nicht nur in Europa. „Ich kann nicht zustimmen, dass Rechtsstaatlichkeit flexibel ausgehandelt wird“, sagt Süssmuth. „Auch bei Presse- und Meinungsfreiheit, da müssten wir so mutig sein und sagen: Bis hierhin und nicht weiter.“ Im Zuge der EU-Erweiterungen in der Vergangenheit kritisiert sie freilich Versäumnisse, zu viel Konzentration auf Freiheit, zu wenig auf das Soziale. Wobei sie anmerkt, Letzteres wollten „wir“ in Europa nicht haben. In Polen würde aber heute nicht die Partei PIS regieren, wenn man neben der Freiheit auch das Soziale bedacht hätte, sagt sie, die seit 2006 Präsidentin des Deutschen Polen-Instituts ist. Die PIS-Partei wird mit ihren Eingriffen in Justiz und Medien von vielen in der EU äußerst kritisch gesehen.