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Zehn Jahre nach dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) glaubt Clemens Binninger als ehemaliger Vorsitzender des Untersuchungs-Ausschusses an mehr als drei Täter

NSU: Chef-Ermittler glaubt nicht an ein reines Mördertrio

Von Dirk Hamann und Jürgen Wegner

PodcastBB - Mit dem Mord an Michèle Kiesewetter in Heilbronn erreichte die Terror-Serie des Nationalsozialistischen Untergrunds 2007 den Kreis Böblingen. Die Polizistin machte zusammen mit ihrem Kollegen Mittagspause auf der Theresienwiese, als beide zum Opfer wurden. Michèle Kiesewetter starb, der Kollege überlebte den Kopfschuss. Beide leisteten Dienst als Bereitschaftspolizisten der Böblinger Wildermuth-Kaserne. Vier Jahre später flog der NSU auf. Zehn Jahre danach gibt es bei Chef-Ermittler Clemens Binninger immer noch große Zweifel an der Theorie vom Mörder-Trio. Hier ein Auszug aus dem kostenlosen SZ/BZ-Podcast „Willi und Dödel“ mit dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten für den Landkreis Böblingen.


Ihr Arbeit in Sachen NSU-Aufklärung ist getan. Wie lautet Ihr Fazit?

Clemens Binninger: „Wenn man sich so viele Jahre mit dem Thema befasst hat, wird man das immer wieder gefragt. Ich habe für mich 2017 das Fazit gezogen, dass wir als Parlamentarier alles dafür getan haben, um Licht ins Dunkel zu bringen. Das ist uns sicher an vielen Stellen geglückt. Gleichwohl muss man bis heute sagen, dass es Fragen gibt, die ungeklärt sind. Das ist aber nicht mehr meine Aufgabe, das müssen die Ermittler machen oder die Nachfolger im Parlament. Aber ich begleite das schon und nehme wahr, was passiert und was nicht passiert.“

Der NSU wird oft reduziert auf das Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Ist das Thema abgeschlossen?

Clemens Binninger: „Wir waren uns im Ausschuss parteiübergreifend einig: Wir haben große Zweifel, dass der NSU wirklich nur ein Trio war. Und wir haben noch größere Zweifel, dass innerhalb des Trios die beiden Männer alle 27 Verbrechen alleine begangen haben sollen. Es gab Unterstützer, die in München angeklagt waren und es gibt nach wie vor Ermittlungsverfahren beim Generalbundesanwalt gegen neun weitere Personen. Diese laufen jetzt schon seit zehn Jahren. Und es gibt ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt, in dem man versucht zu klären, ob es weitere Mittäter gab.“

„Von 5000 Tagen wissen wir vielleicht gerade einmal über 200 oder 300 Tage Bescheid. Der Rest ist eine Blackbox.“

Wieso gibt es große Zweifel, dass die Männer die Taten alleine begangen haben?

Clemens Binninger: „Da gibt es mehrere harte Indizien, auch Fakten, die einen ins Nachdenken bringen. Man hat an keinem der 27 Tatorte Fingerabdrücke oder DNA von Mundlos und Böhnhardt gefunden. Es kann schon einmal sein, dass das einem Täter gelingt, wenn er sehr vorsichtig ist. Aber die Sensorik und die Untersuchungsmethoden der DNA-Forensik sind heute so fein, dass es ein wahnsinniger Zufall wäre, wenn das 27 Mal gelingt. Wir haben keine Zeugen, die die beiden zweifelsfrei identifizieren und wir haben Tatorte, die so abseits gelegen sind, dass man dafür eigentlich Ortskenntnis braucht.“

Dazu kommt, dass die Tatorte quer über Deutschland verstreut sind und sehr zufällig wirken.

Clemens Binninger: „Das stimmt, sie folgen keiner Logik. Weder räumlich, noch zeitlich. Wir haben einen Schwerpunkt in Bayern, wobei auffällt, dass bis auf die Tat in Rostock alle Morde in den alten Bundesländern begangen wurden, die Banküberfälle aber ausnahmslos in den neuen Bundesländern. Wir haben Häufungen und Unterbrechungen. Bis 2006 sind alle Morde mit der gleichen Waffe begangen worden, 2007 kommt der Mord an Michèle Kiesewetter dazu, und dann passiert nichts mehr, bis sie 2011 wieder mit Banküberfällen beginnen. Die Gesamtzeit des Untertauchens zieht sich von 1998 bis 2011, also über 13 Jahre, da fehlt uns vieles an Erkenntnissen. Da ist vieles unergründlich geworden“

Wie kann man erklären, was da fehlt?

Clemens Binninger: „Ein Punkt macht deutlich, wie wenig wir wissen. Das Trio war etwas mehr als 13 Jahre abgetaucht, also rund 5000 Tage. Anhand der Ermittlungen von Bundeskriminalamt und Generalbundesanwalt oder der Arbeit von über zehn Untersuchungsausschüssen und vielen Tausend Aktenordnern wissen wir vielleicht gerade einmal über 200 oder 300 Tage Bescheid. Der Rest ist eine Blackbox. Und wir haben Linien bis in die Gegenwart.“

„Es gab so viele V-Leute in deren Umfeld, da ist es absolut unglaubwürdig, dass keiner etwas mitbekommen hat“

Was sprechen Sie damit an?

Clemens Binninger: „Den Mord an Walter Lübcke. Die Tat von 2019 ist zwar geklärt und der Täter verurteilt, seltsam ist allerdings, dass Lübcke bereits vor 2011 auf einer „Adressen-Liste“ des NSU vermerkt ist. Man muss sich deshalb die Frage stellen: Wer sorgte dafür, dass ein Landespolitiker aus Hessen und späterer Regierungspräsident, schon damals auf der Adressliste eines Terrortrios in Zwickau landet?“

In der rechtsextremen Szene sitzen V-Männer, und niemand will das Trio wahrgenommen haben.

Clemens Binninger: „Es gab so viele V-Leute in deren Umfeld, da ist es absolut unglaubwürdig, dass keiner etwas mitbekommen hat. Aber man darf nicht vergessen: V-Leute sind keine Beamte. Das sind Mitglieder einer extremen Szene, die gegen Geld den Staat, die Sicherheitsbehörden und die Nachrichtendienste mit Informationen versorgen. Das ist für die Sicherheitsbehörden immer ein schmaler Grat. Wir sprechen hier ja nicht von geläuterten Demokraten. Das sind und bleiben in aller Regel Neonazis.“

Die Mordserie

Nach einem Banküberfall fanden Ermittler am 4. November 2011 in Eisenach in einem ausgebrannten Wohnmobil neben den beiden Leichen von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Dienstwaffen der Beamten. Vier Tage später stellte sich Beate Zschäpe der Polizei. Die Täter bezeichnen sich auf einer Bekenner-DVD als „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“.
Dem NSU werden zehn Morde, 15 Banküberfälle, zwei Sprengstoff-Anschläge und 43 Mordversuche – dabei handelt es sich um die Verletzten der beiden Sprengstoffanschläge – vorgeworfen. Neun Tote sind männlich mit Migrationshintergrund. Der Blumenhändler Enver Şimşek, der Änderungsschneider Abdurrahim Özüdoğru, die Obst- und Gemüsehändler Süleyman Taşköprü und Habil Kılıç, Mehmet Turgut, Verkäufer in einem Dönerimbiss und İsmail Yaşar, Inhaber eines Dönerimbisses, der Mitinhaber eines Schlüsseldienstes Theodoros Boulgarides, der Kioskinhaber Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat, Inhaber eines Internetcafés, starben zwischen dem 9. September 2000 und dem 6. April 2006. Michèle Kiesewetter starb am 25. April 2007.

Clemens Binninger

Der 59-jährige Clemens Binninger war für die CDU von 2002 bis 2017 Bundestagsabgeordneter für den Kreis Böblingen und als Mitglied im Innenausschuss unter anderem Berichterstatter für Terrorismusbekämpfung, Luftsicherheit und Cybersicherheit. Er war Mitglied mehrerer Untersuchungsausschüsse und Vorsitzender des „2. NSU-Untersuchungsausschusses“ sowie Vorsitzender des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Kontrolle der Nachrichtendienste. Für ihn sind die Zweifel heute noch zu groß, dass der NSU nur ein reines Tätertrio war und es nur mehr oder weniger schwere Mittäterschaften anderer NSU-Mitglieder gab. Zuletzt schrieb er über die offenen Spuren und Fragen zum Mordfall Kiesewetter in Heilbronn einen Beitrag im Buch des Medienprofessors und ehemaligen Hauptstadt-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung Dr. Tanjev Schultz „Nationalsozialistischer Untergrund: Zehn Jahre danach und kein Schlussstrich“. Clemens Binninger hat sich heute aus der Politik zurückgezogen und berät zusammen mit seiner Frau Ulrike Unternehmen, Kommunen und Einzelpersonen an den Schnittstellen von Politik, Wirtschaft und Verwaltung.