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Stadtmuseum

Sindelfingen 1942: Die Jugend wird an die Front geschickt

Langzeitprojekt „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ des Stadtmuseums und des Stadtarchivs / „Oktober 2022 – Oktober 1942 – „Und wir sind doch noch so jung“ - Russlandfeldzug Oktober 1942
Von Illja Widmann*
Hans Steißlinger gemalt von seinem Vater Fritz Steißlinger, um 1940. Das Bild befindet sich in Privatbesitz.  Reproduktion: Stadtmuseum Sindelfingen

Hans Steißlinger gemalt von seinem Vater Fritz Steißlinger, um 1940. Das Bild befindet sich in Privatbesitz. Reproduktion: Stadtmuseum Sindelfingen

Sindelfingen. Das Stadtmuseum Sindelfingen befasst sich von September 2019 bis Mai 2025 unter dem Titel „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs und wie sich damals die Situation für die Menschen vor Ort darstellte. Das Thema im Monat Oktober 2022 lautet „Und wir sind doch noch so jung“ - Russlandfeldzug Oktober 1942.

Dazu wird monatlich ein Objekt oder Thema in den Mittelpunkt gestellt, das vor 80 Jahren relevant war und auf das analog im Stadtmuseum Bezug genommen wird. So entsteht eine Reihe mit 69 Beiträgen, die monatliche Blitzlichter auf die Zeit von September 1939 bis Mai 1945 wirft und das damalige Geschehen auf lokaler Ebene lebendig werden lässt. Die Objektauswahl erfolgt anhand der Sammlungsbestände von Archiv und Museum. Darüber hinaus werden auch Erinnerungsorte einbezogen und, begleitend zum Projekt, Gespräche mit Zeitzeugen geführt und aufgezeichnet.

Der Abiturjahrgang 1940 der damaligen Adolf-Hitler-Schule (heute Goldberggymnasium) hat der Nachwelt ein wertvolles schriftliches Zeugnis hinterlassen. In Form eines sogenannten Rundbuchs trugen die ehemaligen Schülerinnen und Schüler ihre Erlebnisse nach dem Abitur ein.

Neben dem Rundbuch gibt es weitere schriftliche Quellen. Von Hans Steißlinger (1922 bis 1947), dem Sohn des bekannten Malers Fritz Steißlinger aus Böblingen, sind Tagebücher und Briefe erhalten, die sich im Besitz der Familie befinden. Hans Steißlinger erlebte schon früh in seinem Soldatenleben Gewalt und Tod. Die Tagebucheintragungen im Oktober 1942 zeigen einen desillusionierten jungen Mann. Er versah seinen Dienst mit Überzeugung und blickte dennoch kritisch auf Ereignisse und Situationen, mit denen er konfrontiert war.

Tagebuch vom Oktober 1942

„Es hängen schwarze Wolken über dem deutschen Heer. Wolken! O, wie lang ich schon vorher ihr Nahen drückend gespürt habe! Uns geht die Luft knapp, sehr knapp. Keine Leute mehr. Was sich im letzten Monat mit unserer Division so furchtbar vollzogen hat, ging während des vergangenen Jahres wohl mit der ganzen Armee vor sich. Nun stehen die Heere und hecheln…Und dann: Der Krieg in Russland muss nächstes Jahr ein Ende finden! So sagt der Führer…Und ich gehe meine Pflicht zu tun. Es ist oft so, als sei ich beladen mit einer ungeheuren Last an Sorgen, während die meisten noch gleichmütig ihren Trott gehen. Und ich mußte für sie mitsorgen und alles selber abmachen, weil ich Offizier bin, zäh sein muß, trotz allem, und arbeiten und schweigen…Es ruht viel auf unseren Schultern. Und wir sind doch noch so jung. Vor dem Gesetz nicht einmal mündig! 20 Jahre.“ (Tagebuch 19.10.1942, Peri)

Zehn Tage später schreibt er an seinen Bruder Eberhard (1924-1945): „…der Anblick riesenhaft anwachsender Totenfelder, Kreuze, Namen, Hügel! Viele Kameraden liegen da, die noch vor Tagen mit mir lachten. Und einer war dabei, der seit einem Jahr fast jeden Tag mit mir geteilt hat…nun hab' ich ihn liegen lassen und geh' allein weiter. Nicht ärmer oder trauriger. Nur die Augen etwas mehr zusammengekniffen und den Mund schmaler. So ist das bei uns! Hat seine Richtigkeit. Wenn uns mal so ein unvernünftiges Ding erwischt, vielleicht gleich heute Nacht, wollen wir die Letzten sein, die sich beklagen. Wir haben vom Leben noch nichts gehabt. O ja, wohl mehr als andere. Denn wir haben so viele Hüllen fallen sehen, so viel Nacktheit, Feigheit, Häßlichkeit. Aber alles im Feuer der Front…Wir schlafen nachts nicht mehr, sondern lauern zum Feind hin.“

Im Tagebuch vom 31.10.1942 beschreibt sich Hans Steißlinger selbst: „Bewaffnet bis an die Zähne: Pistole am Koppel, Pistole in der Tasche, Handgranate in der Tasche, grüne und weiße Leuchtkugeln, Lichtpistole in Koppel gesteckt, Fernglas an der Brust und Taschenlampe. Und unter allem krabbeln und beißen die Läuse…Großvater hat mal wieder einen Brief geschrieben, von Heldentum und Deutschlands Aufstieg und lauter schönen Sachen…Wenn er wüßte, wie sich das im Bunker anhört und in so einer Nacht über Rußland…Dein Enkel ist älter als du!“

Die Texte von Hans Steißlinger offenbaren die Realität des Krieges und die Hoffnungslosigkeit des jungen Mannes, der wohl bereits erkannte, dass der Krieg in Russland nicht gewonnen werden konnte. Hans Steißlinger starb 1947 an den Folgen einer Verwundung.

( *Illja Widmann ist die Leiterin des Sindelfinger Stadtmuseums.)

Info: Die zugehörige Vitrine im Sindelfinger Stadtmuseum ist seit dem 25. Oktober 2022 dem Publikum zugänglich. Die Texte sind auch auf der städtischen Homepage nachzulesen. Das Museum in der Hinteren Gasse 2 hat geöffnet: Dienstag bis Samstag von 15 bis 18 Uhr, sonn- und feiertags von 13 bis 18 Uhr.