

Sindelfingen. Am 17. April 1945 hatten französische Truppen den Landkreis Böblingen erreicht, in den sie von Süden und Westen vorrückten. Die Verbände gehörten zur ersten französischen Armee, die zu einem Großteil aus algerischen, marokkanischen und tunesischen Soldaten aus den französischen Kolonialgebieten bestand. Der Widerstand der deutschen Einheiten – sowohl Wehrmacht als auch Volkssturm – war nur noch punktuell und von kurzer Dauer, führte aber in manchen Orten wie Weil im Schönbuch oder Deckenpfronn zu vielfachen Opfern unter der Zivilbevölkerung und schweren Zerstörungen.
Am Morgen des 21. April teilten sich die französischen Truppen, von Maichingen kommend, zum Weitermarsch Richtung Sindelfingen, Böblingen und Schönaich auf. Kurz bevor die ersten Truppen Sindelfingen erreichten, sprengten abziehende Wehrmachtseinheiten noch die Eisenbahnbrücke über die Calwer Straße (heutiger Calwer Bogen). Damit war den französischen Truppen der direkte Weg zum Stadtzentrum über die Gartenstraße versperrt, so dass sie nun über das weitgehend verlassene Werksgelände des Daimler-Benz Werks von Südwesten und über die Zimmerplatzsiedlung und die Obere Vorstadt von Nordwesten in die Stadt eindrangen.
In der Ziegelstraße hatten Wehrmachtsverbände wenige Tage zuvor noch eine Panzersperre errichtet. Da mit Kampfhandlungen und Zerstörungen gerechnet werden musste sobald die Besatzer auf Widerstand irgendwelcher Art treffen würden, versammelten sich vor dem Rathaus mehrere Hundert Frauen und verlangten, für eine sofortige Beseitigung der Panzersperre zu sorgen.
Mehrere Augenzeugen berichten, dass Drogist Lämmle den französischen Truppen in der Oberen Vorstadt entgegengegangen sei und sie über die Lange Straße und die Planie zum Marktplatz geführt und so die Ziegelstraße umgangen hätte. Ein anderer Bericht spricht davon, dass die Panzersperre im letzten Moment noch beseitigt wurde. Auf jeden Fall sind der Stadt durch mutiges Handeln schwere Kampfhandlungen erspart geblieben.
Nachdem sich die örtlichen Vertreter der NSDAP abgesetzt hatten, verblieb lediglich Bürgermeister Pfitzer auf dem Rathaus, um den französischen Soldaten die Stadt zu übergeben. In der Stadtchronik beschreibt er den Vorgang nachträglich so:
„In unserer Stadt sind französische Truppen am 21. April 1945 einmarschiert und haben die Stadt mit etwa 600 Offizieren und Mannschaften besetzt. Die Einnahme und Besetzung der Stadt erfolgte ohne besondere Zwischenfälle, nur leichte Gefechtstätigkeit war mit der Besetzung verbunden. Am Tage der Besetzung wurde der Bürgermeister mehrere Stunden lang im Rathaus festgehalten und von 5 Marokkaner-Soldaten bewacht. Vor dem Rathaus stand der Bürgermeister den Bajonetten der französischen schwarzen Truppen gegenüber und wurde von diesen tätlich angegriffen und aller seiner Wertsachen beraubt. Am darauffolgenden Tag wurde Bürgermeister Karl Pfitzer nach kurzem Verhör durch den zuständigen französischen Offizier in seinem Amte belassen.“
Unerwähnt bleibt im Bericht Pfitzers, dass es auch in Sindelfingen zu Plünderungen und einer Vielzahl von Vergewaltigungen durch die einmarschierten Truppen gekommen ist. Berichtet wurde über Vergewaltigungen vor allem in der Goldberg-Siedlung. Ein niederländischer Zwangsarbeiter spricht darüber, dass die „marokkanischen Soldaten“ für 24 Stunden einen „Freibrief“ gehabt hätten, und dass nicht nur deutsche Frauen, sondern auch die sowjetischen Zwangsarbeiterinnen, die in der Suevia-Fabrik untergebracht waren, Opfer von sexueller Gewalt geworden sind. Ein anderer niederländischer Zwangsarbeiter berichtet, dass auch in Sindelfingen deutsche Frauen niederländische Zwangsarbeiter um Schutz gebeten haben und von diesen versteckt worden seien.
*Horst Zecha leitet seit vielen Jahren das Archiv der Stadt Sindelfingen.
Das Projekt „Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg“ stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt und präsentiert dies in einer Vitrine. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv entsteht auf diese Weise ein Blick in die Vergangenheit, der unter anderem die Alltagssituation der Menschen damals in den Blick nimmt.
Die Monatsvitrine zum Thema ist seit Mittwoch, 16. April, im Stadtmuseum zu sehen. Das Sindelfinger Stadtmuseum im Alten Rathaus in der Langen Straße 13 hat folgende Öffnungszeiten: Dienstag - Samstag 15 - 18 Uhr, Sonn- und Feiertag 13 - 18 Uhr.